Wünsche
Rotbuche über sich lauschen und die Vögel auf der Mauer gegenüber zählen, redet sie mit ihm über irgendwelche Dinge, die schon lange vorbei sind.
Alle leben so. Die Stadt, in der man groß geworden ist, bleibt die Stadt, an der alle weiteren gemessen werden. Ist Heimat eigentlich dort, wo man herkommt, oder dort, wo man hinwill?
Zu Fuß ist Vera gestern Nacht vom Bahnhof in die Stadt hinaufgegangen. Das Eiscafé Venezia hatte längst geschlossen, aber auf der ersten Etage, in Karatschs Agentur, hat sie in einem einzelnen erleuchteten Fenster die Silhouette eines jüngeren Mannes gesehen. Sieht wie ein Boxer aus, hat sie gedacht, was macht so einer bei Karatsch im Büro? An dem Klingelschild im Eingang ist sie vorbeigegangen, die Bahnhofstraße hinauf. Der griechische Schneider hat wie immer unter Neonlicht an seiner alten Nähmaschine gesessen, obwohl es bereits spät war. Als sie bei der Post abbog, hat sich gerade die Beleuchtung über dem Philateliegeschäft Reimann ausgeschaltet, und zwei Querstraßen weiter beim Marktplatz ist im Schaufenster von Foto Kirsch das Abschlussfoto von Jos Abiturjahrgang ausgestellt gewesen. Ja, von Schaufenster zu Schaufenster war sie weitergelaufen. Alle vollzählig, alle noch da, seitdem sie an Silvester den Weg in umgekehrter Richtung gegangen ist. Da schon wäre sie am liebsten wieder umgekehrt und zurück nach London gerannt, wo nicht das Eiscafé Venezia in ihrem Rücken und Pizza Schmitza an der nächsten Ecke vor ihr liegen, sondern ein Hinterhof auf sie wartet, in dem sehr junge Jungen an teuren Autos herumpolieren und wo gleich gegenüber der Markt ist, der nur einmal die Woche unter einem groß dreinschauenden Sonntagshimmel nicht stattfindet. Auf dem Markt hat sie fast alles gekauft, was sie zum Leben brauchte, auch die Perlenkette zu zwei Pfund für ihren großen Auftritt vor Kennedys Kamera. Mein Gott, wie sie den festen, besorgten Druck seiner Hände vermisst und deren sanfte Gewalt. Trotzdem wird sie wieder hier und einfach weiterleben, als sei nichts geschehen. Was soll’s. Täglich kann man dabei erwischt werden, dass man nichts Besonderes tut.
Stopp mal, ruft Meret quer über die Straße hinter einem Mann her, der von hinten sehr jung aussieht. Als er sich umdreht, ist er auch von vorn nicht viel älter.
Du kriegst von mir noch deine Jacke, Mann ohne grüne Jacke, sagt Meret.
Hannes, sagt Vera.
7.
Den ganzen Tag über sind Karatsch, Friedrich Wünsche und er durch London gestreunt. Als sie am Abend in die Bancroft Road zurückkommen, bietet Kennedy an, dass sie bei ihm schlafen. Die Nacht wird kurz sein. Morgen, am Sonntag, müssen sie früh los, um die Fähre zurück von Dover nach Calais zu erreichen. Friedrich Wünsche bekommt das winzige Kinderzimmer mit den vergilbten Pferdepostern. Da hat sie geschlafen, sagt Kennedy, meine große Tochter. Er zeigt auf ein Klappbett mit rosa Vorhängen. Nehmen wir das Doppelbett im Schlafzimmer, Sohn?, fragt Karatsch, und Kennedy kündigt an, er könne seinen Schlafsack zwischen Küche und Wohnraum ausrollen.
Wenn ihr in der Nacht ein Kratzen hört, sagt er, dann ist das kein Einbrecher.
Sondern meine Frau, sagt Karatsch.
Keiner lacht.
Kennedy hebt die Hand zur Zimmerecke. Am Mittelfinger trägt er etwas Breites, Silbernes, drei Viertel Schmuck, ein Viertel Schlagring. Jo folgt der Richtung, in die die Hand zeigt. Wieder fällt ihm das Stück Tapete auf, das in einer Ecke mit Stecknadeln befestigt ist.
Das Kratzen ist der Geist eines Taxifahrers, der vor mir hier gelebt hat, sagt Kennedy.
Taxifahrer war ich in meiner Jugend auch mal, sagt Karatsch.
Der vor dir hier war, hat sich erhängt, sagt Kennedy, aber lächelt Jo an.
Ob er noch einen zweiten Schlafsack hat?
Als sie auf die Straße treten, ist der Nachthimmel von einem hellen, lichten Gelbgrau, wie immer in großen Städten. Jo geht neben Kennedy, der kein Bier im Haus hatte. Er hat vorgeschlagen, in der Approach Tavern etwas trinken zu gehen, gute zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt. Salomés Lieblingskneipe, hat er gesagt. Alle drei sind wieder bei dem Namen zusammengezuckt, und wieder hat keiner gesagt, dass die Frau, die er meint, Vera heißt.
Oder Mutter.
Ein Wohnblock, verkleidet mit weiß lasierten, rissigen, fleckigen Ziegeln und durchbrochen von zahllosen Aufgängen, zieht sich bis zur nächsten großen Kreuzung. Nur in einem Fenster im vierten Stock brennt ein kaltes Licht, das die Stille der Straße verstärkt. Im Fensterrahmen
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