Wünsche
Friedrich Wünsche. Auf der Rolltreppe dreht sich kurz eine alte, sehr gut angezogene Frau zu ihnen um. Der Riemen ihrer Umhängetasche betont ungeschickt ihre linke Brust unter der rosa Kostümjacke. Leise bewegt sie die Lippen, als würde sie singen oder beten, bevor sie im dritten Stock mit dem steifen Gang einer beleidigten Katze in der Parfümerie verschwindet.
6.
Was kochen wir heute Abend? Und vor allem morgen, wenn alle wie versprochen wieder zu Hause sind? Nudelauflauf? Fisch? Von der Kirche mit den zwei Türmen läutet es Mittag. Meret hat sich soeben erst angezogen. Sie kramt zwischen Rechnungen, Kulis, Kerzen und Teebeuteln einen Lippenstift aus der Obstschale, die auf dem Küchentisch steht, um blind die Kontur ihres Mundes nachzuziehen. Das hilft jetzt auch nichts mehr, denkt Vera. Doch was gibt ihr eigentlich das Recht, die Freundin mit der strahlenden Grausamkeit einer Jugend zu mustern, die sie selber nicht mehr hat? Oder deren allerallerletzten Akt sie sich inszeniert hat, indem sie in London untertauchte? Ob man ihr ansieht, dass sie all die letzten Wochen eine graue Trainingshose und ein weißes Männerunterhemd getragen hat, ärmellos und an zwei oder drei Stellen geflickt? Dass sie irgendwie schlampiger, müder und befreiter zugleich geworden ist, als müsste sie sich hinter keiner Pose, hinter keinem hochgezogenen, ewig jungen Gesichtchen mehr verstecken? Meret neigt sich weiter vor, wie um in Veras Pupillen nach ihrem eigenen Spiegelbild zu suchen oder dem Bild, das sie sich ab jetzt von der Freundin machen soll. Beide sind sie auf dem Weg, auf dem man aus der Blicklinie der Männer verschwindet. Bald wird es still werden, während das Leben immer schneller läuft, und kaum jemand wird noch danach fragen, ob Meret oder auch sie noch für die Schnelligkeit oder nur noch für die Stille gemacht sind. Warum eigentlich nimmt sie jetzt Meret nicht einfach beim Arm und sagt, man muss nur noch ein wenig geduldig sein, bis einen das wirkliche Alter von dieser ganzen Schinderei hier erlöst? Ist sie von der Begegnung enttäuscht? Hat sie gehofft, dass Meret hartnäckiger fragt, wer ist eigentlich der Mann, der es geschafft hat, eine so schöne Trägheit bei dir zu enthüllen, he?
Doch Meret und sie haben auch früher nie über Männer gesprochen. Warum eigentlich nicht?
Außerdem, Meret ist schon immer nur mit sich beschäftigt gewesen, und sie, Vera, hat an dieser Beschäftigung teilnehmen dürfen.
Als sie wenige Minuten später vor Haus Wünsche stehen, schaut sie zu dem Fenster im ersten Stock hinauf, hinter dem einmal Merets Kinderzimmer war. Dort hatten sie gespielt, wenn es kalt war oder regnete. Ein breites Fenster, genau über dem Ü von WÜNSCHE .
Wohin gehen wir jetzt?, fragt sie.
In die Stadt.
Aber da sind wir doch schon.
Schlaumeise, sagt Meret und zieht los, vorbei am Reformhaus, das heute Sanddornsirup billiger verkauft, vorbei beim Juwelier, von allen Knippstein Karl genannt. Hallo, Vera, ruft er hinter ihr her, wieder zurück? Gruß an Karatsch!
Vielleicht gibt es auch hier am Stadtrand vier alte Türken in einer Autowerkstatt wie am oberen Ende der Cambridge Heath, die sieben Tage die Woche auf einer türkisen Kunstledergarnitur sitzen und aus bunten Gläsern Tee trinken. Vielleicht gibt es auch hier einen fremden Alltag, von dem Vera bisher nur nichts wusste. Sie überqueren die Ampel bei der Brauerei. Vera läuft hinter Meret her. So war es immer schon. Es riecht nach Hopfen, denn gebraut wird auch samstags. Auch das war immer schon so. Aber etwas ist neu. Meret zieht einen anthrazitfarbenen Einkaufstrolley hinter sich her. Kein Rentnerkoffer, sagt sie, als hätte sie Veras Blick in ihrem Rücken gespürt. Sie dreht sich um. Das ist ein Markenprodukt, Süße, was es aber bei Ikea jetzt bereits viel billiger gibt.
Im Obstladen Spanischer Garten kauft Meret Pilze und Zwiebeln bei der jungen Frau des türkischen Inhabers. Also doch Nudelauflauf, sagt sie beim Aussuchen, als hätte jemand anderes für sie entschieden. Die Verkäuferin trägt Kopftuch. Haar und Stoff sind als dicker Knoten im Nacken gebunden, so dass sie nicht muslimisch, sondern wie eine junge Frau aus den Fünfzigern aussieht. Der Inhaber vom Eiscafé Venezia ruckt mit dem Zwillingskinderwagen seiner Enkel über das Kopfsteinpflaster. Na, wieder da?, ruft er. Wie geht es Karatsch? Gut, antwortet Meret anstelle von Vera. Mit der Ruhe von Menschen, die beim Friedhof auf der Bank sitzen, rauchen, dem Wind in der
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