Wuestentochter
große Entfernungen, schwere, um Rüstungen zu durchbohren und scherenköpfige, um … nun ja …«
Khalidah erschauerte, als sie sich ausmalte, was passieren würde, wenn ein solches Projektil tief in einen Schwertarm, ein nicht von Schienen geschütztes Bein oder einen bloßen Nacken eindrang. Und noch etwas fiel ihr auf: Auf dem Feld herrschte Stille. Ein Beduinenangriff wurde stets von Kriegsrufen, Gejohle und Lobpreisungen Allahs begleitet, doch abgesehen vom Trommeln der Hufe und dem Schwirren der Pfeile verursachten die Dschinn-Reiter keine Geräusche, und Khalidah hatte auch nicht gesehen, dass sie sich per sichtbaren Zeichen verständigten.
»Wie können sie nur mit einer solchen Sicherheit agieren, ohne dass Befehle fallen?«, fragte sie.
»Dank ständigem Training, strikter Disziplin, Vertrauen zueinander und das Wissen um die Fähigkeiten eines j eden ihrer Kameraden. Vielleicht lässt es sich mit dem isolierten Leben erklären, das sie führen, oder mit ihrem Gemeinschaftsgeist … was auch immer es ist, es macht sie unbesiegbar, weil sie denken und handeln wie ein Wesen.«
»Das ist ja alles schön und gut, wenn man gegen Strohpuppen kämpft oder vielleicht auch noch gegen eine gleiche Anzahl realer Gegner«, gab Khalidah zu bedenken. »Aber nicht, wenn sie dem Feind zahlenmäßig unterlegen sind.«
»Das stimmt, und deswegen haben sie für diesen Fall eine besondere Taktik ausgearbeitet.«
»Was für eine Taktik?«
»Ihre Angriffe sind schon brillant, ihre Rückzüge jedoch spektakulär. Sie setzen sie als Offensivmanöver ein - wenn der Feind in der Übermacht ist oder sie in die Enge getrieben hat, täuschen sie einen Rückzug vor und verleiten die Gegner dazu, sie zu verfolgen. Und hier kommen ihre Pferde ins Spiel, die nie müde werden. Sowie die Feinde erschöpft und von jeglicher Hilfe abgeschnitten sind, kehren sie um und kreisen sie ein. Sie halten sich an die Kampfphilosophie des Fernen Ostens: Zieh dich zurück, wenn der Gegner stark ist, und schlag zu, wenn er Schwächen zeigt.«
»Saladins Armee verfährt auch nach diesem Muster, habe ich gehört«, versetzte Khalidah.
»Aber Saladins Armee verfügt weder über Dschinn-Pferde noch über die Fähigkeit, sich wort- und zeichenlos zu verständigen.«
Khalidah beobachtete, wie eine kleine Gestalt auf einem stahlgrauen Hengst eine Reihe von Pfeilen auf die Strohpuppen abfeuerte und dann so anmutig wie ein Vogel im Flug davonjagte. Sie musste an ihren Alptraum denken und fragte sich laut, wie wohl ein Templertrupp reagieren würde, wenn er es mit solchen Kriegern zu tun bekam.
»Vermutlich würde ihnen vor Schreck das Herz stehen bleiben«, entgegnete Sulayman.
Sie starrte ihn so verdutzt an, dass er lachen musste.
»Das sind keine Krieger, Khalidah. Sie befinden sich noch in der Ausbildung. Keiner ist älter als sechzehn, und es handelt sich ausschließlich um Frauen.«
Wie zur Bestätigung nahm die Reiterin auf dem grauen Hengst ihren Helm ab. Abi Gul grinste Khalidah und Sulayman an und winkte ihnen fröhlich zu.
3
»Was soll das heißen, du gehst nicht?« Salims Stimme zitterte vor Zorn. »Das ist ein Schlag in das Gesicht der Männer und unseres Vaters!«
Al-Afdhal, der auf einem Stapel Kissen ruhte, zuckte die Achseln und sog an seiner Huka. Dann hielt er Salim das Mundstück hin, doch dieser winkte angewidert ab. »Ach, Salim.« Er stieß eine Wolke beißenden, harzigen Rauchs aus. »Du nimmst dich viel zu wichtig.«
»Sollte ich es lieber so halten wie du und überhaupt nichts ernst nehmen?«
»Du bist ein Kind, akhah. Du weißt gar nichts.«
Aus einem plötzlichen Gefühl heraus musterte Salim seinen Bruder eingehender. Al-Afdhal war zwar von der Droge benommen, hätte aber normalerweise trotzdem auf eine so grobe Beleidigung mit Ärger reagiert. Doch stattdessen las Salim in seinem Gesicht nur satte Selbstgefälligkeit. Unbehagen keimte in ihm auf.
»Und was weißt du, Al-Afdhal, was ich nicht weiß?«
»Wenn ich gewollt hätte, dass du die Antwort darauf erfährst, hättest du diese Frage nicht zu stellen brauchen.« Sein Bruder lächelte, als habe er eine besonders geistreiche Bemerkung von sich gegeben.
Salim betrachtete ihn einen Moment lang nachdenklich, dann sagte er: »Du hast mit Gérard de Ridefort gesprochen.« Obwohl das eine bloße Vermutung war, schlug er einen Ton an, als sei er sich seiner Sache ganz sicher, und seine Rechnung ging auf: Das Gesicht seines Bruders verlor plötzlich jegliche
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