Wuestentochter
»Sie hatten sie bewusstlos am Rand der Marschen gefunden. Eine so junge Frau, die so kurz vor der Niederkunft alleine in der Gegend umherirrte … das führte unweigerlich zu Schlussfolgerungen, die sich nicht mit ihrer Ehre vereinbaren ließen. In vielen Dörfern wäre sie davongejagt worden. Doch Radwan hatte eine große Schwäche für schöne Frauen, daher befahl er den Männern, sie zu ihm zu bringen.
Ich muss zu ihren Gunsten sagen, dass sie mit der Würde einer Prinzessin vor ihm niederkniete. Er befragte sie auf Arabisch, doch sie antwortete in hebräischer Sprache. Zweifellos glaubte sie, niemand würde sie verstehen. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich in Bagdad bei einem jüdischen Arzt studiert hatte, der mir seine Sprache beibrachte. Daher erfuhr ich einen guten Teil mehr über sie, als es sonst der Fall gewesen wäre. Sie stammte aus Shiraz. Das Kind war natürlich illegitim und in Kairo empfangen worden. Sie wollte mir nicht sagen, was sie dort so fern ihrer Heimat getan hatte und warum sie den Vater des Kindes nicht um Hilfe bitten konnte. Am Ende hatte sie beschlossen, zu ihrer Familie in Persien zurückzukehren, aber sie war nur bis zu uns gekommen, als die Wehen einsetzten.
Radwan fragte mich, ob ich etwas für sie tun könne. Selbst heute noch bin ich nicht sicher, ob er mir das überhaupt zugetraut hat, aber damals sagte ich: ›Bringt sie in mein Haus. Ich werde tun, was ich kann‹, und wiederholte die Worte noch einmal auf Hebräisch. Sie sah mich an. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck so abgrundtiefer Verzweiflung, wie ich ihn noch nie gesehen hatte und nur beten kann, ihn nie wieder sehen zu müssen. Sie war sicher, dass ich ihre Notlage ausnutzen wollte.« Ghassan schüttelte den Kopf.
»Aber sie lag schon tief in den Wehen, ihr blieb keine andere Wahl. Sie kämpfte die ganze Nacht und den nächsten Tag, um das Kind zur Welt zu bringen, und als es endlich kam, atmete es nicht. Sie sah mich an und sagte: ›Rette mein Kind oder schneide mir die Kehle durch‹, und ich wusste, dass sie es ernst meinte. Also tat ich etwas, was ich einmal gehört, aber als unmöglich abgetan hatte - ich legte meinen Mund über den des Kindes und sog die Flüssigkeit aus seinen Lungen, dann beatmete ich es. Fünf Mal stieß ich ihm meinen Atem in die Lungen, dann geschah das Wunder: Es verzog das Gesicht und begann zu schreien.«
Ghassan hielt, in Gedanken tief in der Vergangenheit gefangen, kurz inne, dann fuhr er fort: »Haya weigerte sich, mir vom Vater des Kindes zu erzählen, aber als ich ihr ihren kleinen Sohn gab, konnte ich sehen, dass sie ihn liebte. Sie nannte ihn Sulayman al-Madhuth … seines außergewöhnlichen glücklichen Eintritts in das Leben wegen.« Ghassan brach ab. Sein Blick wanderte zu Sulaymans fieberheißem Gesicht, und ein Schatten flog über sein eigenes. »Sie blieb eine Woche bei mir«, berichtete er dann weiter. »Dann verschwand sie plötzlich. Ich suchte natürlich nach ihr. Wenn man jung ist, hegt man romantische Vorstellungen. Ich malte mir aus, wie ich sie vor einem Leben auf der Straße bewahren und sie und den Jungen als meine Frau und meinen Sohn in die Marschen zurückbringen würde.« Er verzog seine Lippen zu einem traurigen Lächeln. »Ich habe sie nie gefunden, sie aber auch nie vergessen, und den kleinen Jungen, den ich vom Tod in das Leben zurückholen konnte, auch nicht. Ich stellte mir vor, wie er irgendwo in Schmutz und Armut aufwuchs, aber wenigstens von seiner Mutter geliebt wurde.
Ich weiß, was du jetzt denken musst, Khalidah. Sulayman ist ein häufig vorkommender Name, und eine Stadt wie Kairo produziert eine Vielzahl von Waisen. Ich kann es zwar nicht beweisen, aber ich wusste schon, als ich Sulayman zum ersten Mal sah, dass ich Hayas Sohn vor mir hatte. Er ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Warum hast du ihm das alles nie erzählt?«, zischte Khalidah ihn an. »Weißt du eigentlich, wie sehr er all die Jahre darunter gelitten hat, nicht zu wissen, wer er ist?«
»Oh doch, das weiß ich«, erwiderte Ghassan. »Er hat mit mir darüber gesprochen.«
»Warum hast du dann trotzdem geschwiegen?«
Ghassan blickte sie aus traurigen Augen ruhig an. »Weil es nichts geändert hätte, hätte er die Wahrheit gekannt. Ja, ich habe mich um seine Mutter gekümmert, habe sie aufrichtig geliebt, aber wirklich gekannt habe ich sie nicht. Ich wusste nicht, wer sie war und was aus ihr geworden ist. Ich weiß nicht, wie der Mann war, den sie geliebt und
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