Wuestentochter
dich jetzt aus. Nimm mein Bett. Und hier, zieh das an. Deine Kleider sind völlig durchweicht, und ich möchte nicht, dass du auch noch krank wirst.« Er nahm ein langes Baumwollgewand von einem Haken an der Wand und reichte es ihr. Khalidah nahm es dankbar entgegen. »Ich wecke dich, wenn sich sein Zustand ändert.«
Khalidah war zu erschöpft, um Einwände zu erheben. Sie streifte ihre nassen Kleider ab, sowie Ghassan ihr den Rücken zukehrte, und zog das Leinengewand an, das ihr zwar viel zu groß, aber wenigstens warm und trocken war. Dann schob sie die ungehalten maunzenden Katzen zur Seite, legte sich auf das Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Tag waren sowohl Sulaymans Zustand als auch das Wetter unverändert. Ghassan flößte ihm geduldig immer wieder Medizin ein, und Khalidah trödelte nervös im Haus herum und bemühte sich, sich von ihrer Verzweiflung nicht überwältigen zu lassen. Im hellen Tageslicht erschien ihr ihre Situation noch unwirklicher als in der Nacht zuvor, und das Schweigen zwischen ihr und dem Heiler wurde immer drückender, denn alle ihre Versuche, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, wurden schroff und einsilbig abgefertigt.
Endlich konnte sie es nicht länger ertragen. »Was verheimlichst du vor mir?«, platzte sie heraus.
Sie rechnete mit einer weiteren knappen Ausflucht, doch stattdessen stellte Ghassan Schale und Löffel beiseite, sah ihr in die Augen und erwiderte: »Ich kannte seine Mutter.«
Khalidah konnte ihn nur stumm anstarren. Seine Antwort hatte ihr die Sprache verschlagen; sie hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit. »Aber … aber Sulayman hat mir gesagt, er wüsste nicht, wer seine Eltern waren.«
»Das stimmt.« Ghassan fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Er weiß auch nichts von dem, was ich dir gleich erzählen werde.«
Khalidah schüttelte den Kopf. »Warum …«
»Weil ich jetzt begreife, dass es falsch war, ihm all dies vorzuenthalten. Ich habe es getan, um ihm Kummer zu ersparen, aber jetzt besteht die Möglichkeit, dass er stirbt, ohne zu wissen, dass er eine Mutter hatte, die ihn liebte, und obwohl du mir nie gesagt hast, wie ihr beide zueinander steht, glaube ich, er würde wollen, dass du seine Geschichte erfährst. Also, Khalidah … bringst du die Kraft auf, sie zu ertragen?«
Halb überzeugt, dass er nicht bei Verstand war, und zugleich vor Neugier vergehend nickte Khalidah, und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft schenkte Ghassan ihr ein schwaches Lächeln. »Vor über zwanzig Jahren«, begann er ohne Einleitung, »als Nuradin der Sultan und sein Neffe Saladin kaum mehr als ein Lakai seines Onkels Shirkuh war, starb mein Vater. Die Grundpfeiler unserer Welt erzitterten unter dem ägyptischen Kalifat, doch davon bekam ich kaum etwas mit. Natürlich betrauerte ich meinen Vater, aber die eigentliche Tragödie bestand für mich nicht in seinem Tod, sondern darin, dass ich aus Bagdad zurückgerufen wurde, wo ich Medizin studierte.«
Er hielt inne, als müsse er seine Gedanken sammeln, dann fuhr er fort: »Mein Vater war nur ein einfacher Heilkundiger, musst du wissen, und mit seinem Leben nie zufrieden. Und als sein einziger Sohn Interesse an der Heilkunst zeigte, entschied er, dass aus mir ein ›richtiger Arzt‹ werden müsse. Er sparte während meiner gesamten Kindheit und Jugend an allem, um mich nach Bagdad schicken zu können. Meine Mutter und meine Schwestern mussten deshalb auf viel mehr verzichten, als mir damals bewusst war, während er meine Träume von Ruhm und Ehre nach Kräften schürte. Daher und weil ich überzeugt war, dass mich meine Mutter aus purer Bosheit nach Hause gerufen hatte, kam ich von Selbstmitleid erfüllt in die Marschen zurück, in dem ich mich auch noch in der Nacht suhlte, in der Haya gefunden wurde.
Es war Winter, ein bitterkalter Abend, und immer wieder setzte Schneeregen ein. Radwan, der Vater unseres jetztigen Stammesführers, war damals noch unser Anführer, und wir hatten uns in seinem Haus versammelt, als zwei seiner Gefolgsleute sie hereinbrachten. Sie hing wie ein Sack nassen Mehls zwischen ihnen, war ganz offensichtlich krank und hochschwanger, aber trotzdem wunderschön: Haar von der Farbe einer Rabenschwinge, Augen wie Speerspitzen, glatte, honigfarbene Haut …«
In seiner Stimme schwang mit Verlangen gepaarte Bitterkeit mit, und Khalidah begriff plötzlich, dass Ghassan diese Frau geliebt und verloren hatte. Sie lauschte seinen nächsten Worten mit wachsendem Mitleid.
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