Wuestentochter
Kosten durfte von des Lebens Süße Auf dem großen Fest trank ich Aus einem goldenen Becher Und für kurze, nie vergess’ne Zeit Sah ich in den Augen der Geliebten Das reinweiße Licht der Ewigkeit erstrahlen …
Die Musik verklang im Seufzen des Windes. Sulayman saß über sein Instrument gebeugt da, seine Finger ruhten immer noch auf den Saiten. Khalidah beobachtete ihn stumm, während ihr Tränen über die Wangen rannen. Endlich hob er den Kopf und legte die qanun beiseite.
»Hast du dieses Lied geschrieben?«, fragte Khalidah leise.
»Die Musik ja, die Worte stammen, glaube ich, von Allah.«
»Er hat zu dir gesprochen?«
Sulayman schüttelte mit einem wehmütigen Lächeln den Kopf. »Es ist ein sehr altes Gedicht. Ich hörte es von einem blinden Barden aus Hindustan, mit dem ich mir in einem kurdischen Gasthaus einige Tage lang eine Kammer geteilt habe. Wir waren dort eingeschneit und vertrieben uns die Zeit damit, Gedichte auszutauschen. Ich beherrsche kaum Sanskrit, aber das Wenige, was ich von diesem Gedicht verstand, berührte mich tief. Ich bestürmte ihn so lange, bis er mir half, es aufzuschreiben. Das erwies sich als überaus schwierig; unsere einzige gemeinsame Sprache war Persisch, und keiner von uns sprach es fließend. Aber ich erfasste mehr oder weniger, worum es ging, und brachte eine Grundversion zu Stande. Im Laufe der Jahre wurde dieses Lied zu einer Art Besessenheit für mich. Ich überarbeitete es immer wieder und fertigte dann eine endgültige arabische Übersetzung an, obwohl ich fürchte, dass sie dem Original nicht gerecht wird.«
»Und wer hat das Original verfasst?«
Sulayman hüllte die qanun sorgfältig wieder in die Tücher ein. »Ein Dichter namens Chauras, der auch unter dem Namen Bilhana bekannt war«, erwiderte er. »Doch das verrät uns wenig über ihn. Es heißt, er wäre ein Brahmane gewesen. Fest steht, dass er von verschiedenen Königen-je nach Überlieferung von Kaschmir bis Kerala, vor hundert oder vor tausend Jahren - als Hofpoet eingestellt wurde. Doch der Kern der Geschichte ist immer derselbe: Er verliebte sich in Vidya, die Tochter des Königs, und als dieser von ihrer Affäre erfuhr, verurteilte er Chauras zum Tode. In den letzten Stunden seines Lebens verfasste er dieses Gedicht, und als er zur Hinrichtungsstätte geführt wurde, rezitierte er es als Antwort auf das harte Urteil. Einige Chronisten behaupten, er wäre trotzdem hingerichtet worden; anderen zufolge rührten die Worte des Dichters den König so sehr, dass er ihm das Leben schenkte und ihn mit seiner Tochter vermählte.«
»Und was glaubst du?«, fragte Khalidah.
Sulayman seufzte. »Mir wäre die zweite Version lieber, aber ich habe zu viele Könige gekannt.«
Und zweifellos auch die eine oder andere Prinzessin mit dieser traurigen Geschichte betört, dachte Khalidah grimmig, bedachte jedoch nicht, dass Sulayman das Gedicht, seit er die Übersetzung des blinden Barden niedergeschrieben hatte, noch nie laut gesungen und dies auch nie beabsichtigt hatte.
»Aber was macht das jetzt noch?«, fuhr er fort. »Das Leben geht irgendwann einmal zu Ende, aber die Wahrheit stirbt nie. Chauras’ Worte enthalten eine Wahrheit, die die Zeit nicht auslöschen kann. Daran wird sich nie etwas ändern.«
»Vielleicht bringst du es mir eines Tages bei«, bat sie leise.
Im Schein des ersterbenden Feuers glichen ihre Augen dunklen Seen. Sulayman ahnte, dass er endgültig verloren sein würde, wenn ihre Sirenenstimme diese Worte sang, doch wider besseres Wissen erwiderte er nahezu unhörbar: »Wir fangen morgen damit an.«
27
Es war später Nachmittag, und der schwarze König schwebte in Gefahr. Bilal stand kurz vor seinem ersten Sieg seit drei Tagen, seit Salim begonnen hatte, ihm das Schachspiel beizubringen. Ein heftiger Sturm hatte sie in einem schmalen, namenlosen Tal irgendwo zwischen Amman und Kerak festgehalten. Mittlerweile beherrschte Bilal das Spiel recht gut, aber es war ihm bislang noch nie gelungen, Salim zu schlagen.
Er sah zu seinem Freund hinüber. Salim stützte sich auf Hüfte und Ellbogen und hatte die Beine angewinkelt. Er wirkte ruhig und gelassen; auf seinem Gesicht lag der Abglanz jenes Lächelns, mit dem er Bilal an dem Nachmittag betört hatte, an dem er ihm sein Herz in Form eines Granatapfelkerns dargeboten hatte. Bilal zögerte einen Moment, dann machte er seinen Zug.
»Über solche stümperhaften Fehler bist du längst hinweg!«, entrüstete sich
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