Wunder
langsam füllten, fiel mir auf, dass sich niemand direkt neben mich setzte. Ein paar Mal war jemand kurz davor, dann aber änderte diejenige oder derjenige doch noch im letzten Moment seine Meinung und setzte sich woandershin.
»Hi, August.« Es war Charlotte, die mich mit ihrem kleinen Winken begrüßte, als sie sich an einem der vordersten Tische niederließ. Warum jemand freiwillig in der Klasse ganz vorne sitzen will, ist mir echt zu hoch.
»Hi«, sagte ich und nickte zurück. Dann fiel mir auf, dass Julian ein paar Plätze von ihr entfernt saß und mit einem anderen Jungen redete. Ich weiß, dass er mich gesehen hatte, aber er sagte nicht Hallo.
Plötzlich setzte sich jemand neben mich. Es war Jack Will. Jack.
»Was geht?«, fragte er und nickte mir zu.
»Hey, Jack«, antwortete ich, winkte mit der Hand und wünschte sofort, ich hätte es gelassen, denn es kam mir doch irgendwie uncool vor.
»Okay, Kinder, okay, alle miteinander! Kommt zur Ruhe«, sagte die Lehrerin und schaute uns jetzt an. Sie hatte ihren Namen, Miss Petosa, an die Tafel geschrieben. »Jeder sucht sich bitte einen Platz. Kommt rein«, sagte sie zu zwei Schülern, die gerade den Raum betreten hatten. »Da ist noch ein Platz, und da ist drüben auch noch einer.«
Sie hatte mich noch nicht bemerkt.
»Erst einmal möchte ich jetzt, dass ihr alle aufhört zu reden, und …«
Sie bemerkte mich.
»… stellt eure Rucksäcke ab und kommt zur Ruhe.«
Sie hatte nur eine millionstel Sekunde gezögert, aber den Moment, in dem sie mich sah, bemerkte ich trotzdem. Wie gesagt: Ich bin so langsam dran gewöhnt.
»Ich werde jetzt erst einmal die Anwesenheit aufschreiben und mir einen Sitzplan machen«, fuhr sie fort und setzte sich auf ihre Tischkante. Neben ihr lagen drei ordentliche Reihen mit Mappen. »Wenn ich euch aufrufe, kommt ihr bitte nach vorn, und dann gebe ich euch eine Mappe, auf der euer Name steht. Sie enthält euren Stundenplan und das Vorhängeschloss für euer persönliches Schließfach, das ihr bitte nicht zu öffnen versucht, bis ich es euch sage. Die Nummer eures Schließfachs steht mit auf dem Stundenplan. Ich warne euch schon mal vor, dass sich einige Schließfächer nicht direkt vor dem Klassenraum befinden, sondern weiter hinten im Flur, und bevor jemand überhaupt auf die Idee kommt nachzufragen: Nein, ihr könnt die Schließfächer nicht tauschen und die Schlösser auch nicht. Wenn dann am Ende der Stunde noch Zeit sein sollte, werden wir uns alle ein bisschen besser kennenlernen, okay? Okay.«
Sie nahm das Clipboard von ihrem Tisch und begann, laut die Namen vorzulesen.
»Also schön. Julian Albans?«, sagte sie und schaute auf.
Julian hob die Hand und sagte gleichzeitig: »Hier!«
»Hallo, Julian«, sagte sie und machte sich eine Notiz auf ihrem Sitzplan. Sie nahm die erste Mappe und hielt sie ihm entgegen. »Komm und hol sie dir ab«, sagte sie energisch. Er stand auf und holte sich die Mappe.
»Ximena Chin?«
Sie reichte jedem Schüler seine Mappe, nachdem sie den jeweiligen Namen vorgelesen hatte. Während sie die Liste durchging, fiel mir auf, dass der Platz neben mir der einzig unbesetzte war, obwohl nur ein paar Plätze weiter zwei Jungs an einem Tisch saßen. Als Miss Petosa einen von ihnen aufrief, einen großen Jungen namens Henry Joplin, der schon wie ein Teenager aussah, sagte sie: »Henry, da drüben ist noch ein leerer Tisch. Setz dich doch bitte da hin, okay?«
Sie reichte ihm seine Mappe und zeigte auf den Tisch unmittelbar neben mir. Auch wenn ich ihn nicht direkt anschaute, merkte ich, dass Henry nicht neben mir sitzen wollte – an der Art, wie er seinen Rucksack über den Boden schleifte, als er herüberkam, als würde er sich in Zeitlupe bewegen. Dann stellte er den Rucksack oben auf der rechten Seite seines Tisches ab, sodass er eine Art Mauer zwischen ihm und mir bildete.
»Maya Markowitz?«, sagte Miss Petosa.
»Hier«, antwortete ein Mädchen, das vier Tische von meinem entfernt saß.
»Miles Noury?«
»Hier«, sagte der Junge, der mit Henry Joplin zusammengesessen hatte. Als er zu seinem Tisch zurückging, sah ich, wie er Henry einen »Du Armer«-Blick zuwarf.
»August Pullman?«, sagte Miss Petosa.
»Hier«, sagte ich leise und hob meine Hand ein wenig.
»Hallo, August«, sagte sie, und als ich nach vorne kam, um meine Mappe zu holen, lächelte sie mich sehr nett an. In den wenigen Sekunden, in denen ich vor der Klasse stand, kam es mir vor, als würden die Blicke von allen
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