Wunder
ein Nickerchen zu machen, wusste ich, dass ich etwas anderes spielen musste, weil er sich ausruhen musste nach irgendeiner Behandlung, die ihn geschwächt oder ihm Schmerzen bereitet hatte. Wenn ich wollte, dass Mom und Dad mir beim Fußballspielen zuschauten, wusste ich, dass sie es in neun von zehn Fällen nicht schaffen würden, weil sie August zur Sprachtherapie oder zur Physiotherapie fahren mussten oder zu einem neuen Spezialisten oder zu einer Operation.
Mom und Dad sagten immer, dass ich das verständnisvollste kleine Mädchen auf der ganzen Welt sei. Keine Ahnung, ob das stimmt, ich weiß nur, dass ich immer verstanden habe, dass es keinen Zweck hätte, sich zu beklagen. Ich habe August nach seinen Operationen gesehen: sein kleines Gesicht verbunden und geschwollen, sein winziger Körper voller Schläuche und Kanülen, die ihn am Leben halten sollten. Wenn man gesehen hat, wie ein anderer so etwas durchmacht, fühlt es sich ziemlich verrückt an, sich darüber zu beschweren, dass man das Spielzeug nicht bekommt, das man sich gewünscht hat, oder dass deine Mom deine Schulaufführung verpasst. Ich wusste das sogar schon mit sechs Jahren. Niemand hat es mir je gesagt. Ich wusste es einfach.
Ich habe mich also ans Nicht-Beschweren gewöhnt, und ich habe mich daran gewöhnt, Mom und Dad nicht mit Kleinigkeiten zu belasten. Ich habe mich daran gewöhnt, Sachen für mich allein herauszufinden: wie man Spielzeug zusammenbaut, wie ich Termine organisieren muss, damit ich nicht die Geburtstagspartys meiner Freunde verpasse, wie ich in der Schule nicht den Anschluss verliere. Ich habe nie um Hilfe bei meinen Hausaufgaben gebeten. Nie musste ich daran erinnert werden, ein Schulprojekt rechtzeitig abzuschließen oder für einen Test zu lernen. Wenn ich in einem Fach Probleme hatte, ging ich nach Hause und lernte so lange, bis ich es verstanden hatte. Wie man Brüche in Dezimalzahlen umrechnet, habe ich mir selbst beigebracht, indem ich es im Internet recherchiert habe. Ich habe jedes Schulprojekt so ziemlich komplett allein erarbeitet. Wenn mich Mom und Dad fragten, wie es in der Schule läuft, sagte ich jedes Mal »gut« – auch wenn das nicht immer stimmte. Mein schlimmster Tag, mein schlimmster Sturz, die schlimmsten Kopfschmerzen, die schlimmsten blauen Flecke, der schlimmste Krampf, das Schlimmste, was mir jemand an den Kopf geworfen hat, ist immer nichts gewesen im Vergleich zu dem, was August durchgemacht hat. Ich spiele hier übrigens nicht die Heldin: Ich weiß nur, dass es eben so ist.
Und so ist es schon immer für mich gewesen und für unser kleines Universum. In diesem Jahr aber scheint es eine Verschiebung im Kosmos zu geben. Die Galaxie verändert sich. Die Planeten fallen aus ihrer Konstellation.
Vor August
Ich kann mich ganz ehrlich nicht mehr an mein Leben vor August erinnern. Ich schaue mir Fotos von mir als Baby an, und ich sehe, wie glücklich Mom und Dad lächeln, während sie mich halten. Ich kann nicht fassen, wie viel jünger sie damals ausgesehen haben: Dad war dieser Hipster-Typ und Mom diese niedliche brasilianische Fashion-Queen. Es gibt eine Aufnahme von mir an meinem dritten Geburtstag: Dad steht direkt hinter mir, während Mom die Torte mit den drei brennenden Kerzen in der Hand hat, und im Hintergrund sind Tata und Poppa, Grans, Onkel Ben, Tante Kate und Onkel Porter. Alle schauen mich an, und ich schaue die Torte an. Man kann auf dem Bild sehen, dass ich wirklich das erste Kind war: das erste Enkelkind, die erste Nichte. Ich erinnere mich natürlich nicht mehr, wie sich das angefühlt hat, aber ich sehe es glasklar auf den Fotos.
Ich kann mich nicht mehr an den Tag erinnern, an dem sie August aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht haben. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt oder getan oder gefühlt habe, als ich ihn zum ersten Mal sah, auch wenn jeder eine Geschichte dazu erzählen kann. Anscheinend habe ich ihn bloß lange angeschaut, ohne den Mund aufzumachen, und schließlich habe ich gesagt: »Es sieht nicht aus wie Lilly!« Das war der Name einer Puppe, die Grans mir geschenkt hatte, als Mom schwanger war, damit ich »üben« konnte, eine große Schwester zu sein. Es war eine dieser Puppen, die so unglaublich echt aussehen, und ich hatte sie monatelang überall mit hingenommen, ihre Windeln gewechselt und sie gefüttert. Man hat mir erzählt, ich hätte sie mir sogar mit einem Babytuch um den Bauch gebunden. Es kursiert die Geschichte, dass es nach meiner ersten
Weitere Kostenlose Bücher