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Wunder

Wunder

Titel: Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R.J. Palacio
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August durch seine winzigen blumenkohlförmigen Ohren gut genug hören. Die Ärzte glauben allerdings, dass er irgendwann Hörgeräte benötigen wird. August hasst diese Vorstellung. Er glaubt, die Hörgeräte würden zu sehr auffallen. Ich sage ihm natürlich nicht, dass die Hörgeräte sein kleinstes Problem sein dürften, denn ich bin mir sicher, dass er das weiß.
    Dann wiederum bin ich mir gar nicht sicher, was August weiß und was er nicht weiß, was er versteht und was er nicht versteht.
    Sieht August, wie ihn andere Menschen sehen? Oder ist er so gut darin geworden, so zu tun, als würde er es nicht bemerken, dass es ihn schon nicht mehr stört? Oder stört es ihn? Wenn er in den Spiegel schaut, sieht er dann den Auggie, den Mom und Dad sehen, oder sieht er den Auggie, den alle anderen sehen? Oder gibt es noch einen anderen August, den er sieht, jemanden aus seinen Träumen, der sich hinter dem verunstalteten Kopf und Gesicht verbirgt? Manchmal, wenn ich Grans angeschaut habe, konnte ich unter den Falten das hübsche Mädchen sehen, das sie früher einmal gewesen ist. Ich konnte das Mädchen aus Ipanema in dem Gang der alten Dame erkennen. Sieht August sich selbst so, wie er vielleicht ausgesehen hätte, wenn nicht dieses einzelne Gen diese ganze Katastrophe seines Gesichts ausgelöst hätte?
    Ich wünschte, ich könnte ihn so was fragen. Ich wünschte, er würde mir sagen, was er empfindet. Es war vor den Operationen leichter, ihn zu deuten. Man wusste, wenn seine Augen blinzelten, war er glücklich. Wenn sein Mund einen geraden Strich bildete, war er übermütig. Wenn seine Wangen zitterten, war er drauf und dran zu heulen. Er sieht jetzt besser aus, daran gibt’s keinen Zweifel, aber die Zeichen, von denen wir früher auf seine Stimmungen schlossen, sind alle weg. Es gibt natürlich neue. Mom und Dad können jedes einzelne entziffern. Aber mir fällt es schwer, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Und in mir gibt es etwas, das das auch gar nicht versuchen möchte: Warum kann er nicht einfach sagen, was er empfindet, wie jeder andere auch? Er hat keinen Tubus mehr im Mund, der ihn vom Reden abhält. Sein Kiefer ist nicht mehr zugedrahtet. Er ist zehn Jahre alt. Er kann mit Worten umgehen. Aber wir kreisen um ihn herum, als wäre er immer noch ein kleines Baby. Wir schmeißen alles über den Haufen, gehen zu Plan B über, unterbrechen Unterhaltungen, halten, abhängig von seinen Stimmungen, seinen Launen, seinen Bedürfnissen, Versprechungen nicht ein. Das war in Ordnung, als er klein war. Aber er muss jetzt langsam erwachsen werden. Wir müssen es zulassen, müssen ihm helfen, ihn zwingen, erwachsen zu werden. Ich glaube, es ist so: Wir haben alle so viel Zeit damit verbracht, August das Gefühl zu geben, dass er normal ist, dass er inzwischen tatsächlich glaubt, normal zu sein. Das Problem ist nur, er ist es nicht.

High School
     
    Was ich immer am meisten an der Middle School geliebt habe, war die Tatsache, dass sie nichts mit zu Hause zu tun hatte, dass sie etwas ganz anderes war. Ich konnte dorthin gehen und Olivia Pullman sein – nicht Via, wie ich zu Hause heiße. Auch in der Grundschule haben sie mich Via genannt. Damals wussten natürlich alle über uns Bescheid. Mom holte mich immer von der Schule ab, und August war immer im Kinderwagen dabei. Es gab nicht viele Leute, die dafür geeignet waren, bei Auggie das Babysitten zu übernehmen, also brachten ihn Mom und Dad zu all meinen Schultheateraufführungen und Konzerten und Vorsingen mit, zu den Tagen der offenen Tür, den Kuchenbasaren und den Buch-Flohmärkten. Meine Freunde kannten ihn. Die Eltern meiner Freunde kannten ihn. Meine Lehrer kannten ihn. Der Hausmeister kannte ihn. (»Hey, wie geht’s, wie steht’s, Auggie?«, sagte er immer und gab August Fünf.) August war so etwas wie eine feste Größe in der Grundschule.
    Aber in der Middle School wussten viele Leute nichts von August. Meine alten Freunde natürlich schon, aber meine neuen Freunde nicht. Und selbst wenn sie es wussten, dann war es nicht unbedingt das Erste, was sie über mich erfuhren. Vielleicht war es erst das Zweite oder Dritte, was ihnen zu Ohren kam. »Olivia? Ja, die ist nett. Wusstest du, dass sie einen entstellten Bruder hat?« Ich habe dieses Wort immer gehasst, aber ich weiß, dass die Leute Auggie so beschreiben. Und ich weiß, dass solche Gespräche vermutlich außerhalb meiner Hörweite dauernd passieren, jedes Mal wenn ich bei einer Party aus dem Zimmer gehe

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