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Wunder

Wunder

Titel: Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R.J. Palacio
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an dem Grans starb, am deutlichsten im Gedächtnis geblieben: Wie Mom sich mit langsamen, schweren Schluchzern auf dem Boden zusammenkrümmte und sich den Bauch hielt, als wäre sie von jemandem geschlagen worden. Ich hatte Mom noch niemals so gesehen. Ich hatte nie solche Laute aus ihr herauskommen hören. Selbst während all der Operationen von August hatte Mom immer eine tapfere Miene aufgesetzt.
    An meinem letzten Tag in Montauk hatten Grans und ich uns den Sonnenuntergang am Strand angeschaut. Wir hatten eine Decke zum Sitzen mitgenommen, aber es war kühl geworden, also wickelten wir uns darin ein und kuschelten uns aneinander und unterhielten uns, bis nicht mehr der kleinste Strich von der Sonne über dem Meer übrig geblieben war. Und dann sagte mir Grans, sie habe ein Geheimnis, das sie mir anvertrauen wolle: Dass sie mich mehr lieb habe als jeden anderen Menschen auf der Welt.
    »Sogar mehr als August?«, hatte ich sie gefragt.
    Sie lächelte und streichelte mein Haar, als denke sie darüber nach, was sie sagen solle.
    »Ich habe August sehr, sehr lieb«, sagte sie sanft. Ich kann mich noch an ihren portugiesischen Akzent erinnern, daran, wie sie ihre Rs rollte. »Aber er hat schon sehr viele Engel, die auf ihn aufpassen, Via. Und ich möchte, dass du weißt, dass du mich hast und dass ich auf dich aufpasse. Okay, menina querida ? Ich möchte, dass du weißt, dass du meine Nummer eins bist. Du bist mein …« Sie schaute aufs Meer hinaus und breitete ihre Hände aus, als versuche sie, die Wellen zu glätten. »Du bist mein alles. Verstehst du mich, Via? Tu es meu tudo .«
    Ich verstand sie. Und ich weiß, warum sie sagte, dass es ein Geheimnis sei. Großmütter sollen keine Lieblinge haben. Jeder weiß das. Aber nachdem sie gestorben war, hielt ich mich an diesem Geheimnis fest und deckte mich wie mit einer Decke damit zu.

August, durchs Guckloch gesehen
     
    Seine Augen befinden sich gut zwei Zentimeter unter der Stelle, wo sie in seinem Gesicht eigentlich hingehören, beinahe da, wo seine Wangen sein müssten. Sie ziehen sich in einem extremen Winkel nach unten, fast wie diagonale Schlitze, die ihm jemand ins Gesicht geschnitten hat, und das linke ist deutlich tiefer als das rechte. Sie treten hervor, weil seine Augenhöhlen zu flach sind, um sie ganz aufzunehmen. Die oberen Augenlider sind immer halb geschlossen, als würde er gleich einschlafen. Die unteren Lider hängen so tief, dass sie beinahe aussehen, als würden sie mit einem unsichtbaren Faden heruntergezogen: Man kann den roten Innenteil sehen, als wäre das Innere fast nach außen gedreht. Er hat keine Augenbrauen oder Wimpern. Seine Nase ist überproportional groß für sein Gesicht und ziemlich fleischig. Seine Kopf ist an den Seiten, dort, wo die Ohren sein müssten, eingefallen, als wenn jemand eine riesige Kneifzange benutzt und den mittleren Teil seines Schädels eingedrückt hätte. Er hat keine Wangenknochen. Es verlaufen tiefe Falten zu beiden Seiten seiner Nase zu seinem Mund hinunter, und so sieht sein Gesicht aus, als wäre es aus Wachs. Manchmal glauben die Leute, er sei bei einem Feuer verbrannt worden: Seine Gesichtszüge sehen aus, als wären sie geschmolzen, wie die Tropfen, die an einer Kerze herunterrinnen. Mehrere Operationen, die seinen Gaumen korrigieren sollten, haben um seinen Mund herum einige Narben hinterlassen, wobei die auffälligste eine gezackte Scharte ist, die von der Mitte seiner Oberlippe zu seiner Nase verläuft. Seine oberen Zähne sind klein und stehen ab. Er hat einen schlimmen Überbiss und einen extrem unterentwickelten Kiefer. Er hat ein winziges Kinn. Als er noch sehr klein war, bevor ein Stück seines Hüftknochens operativ in seinen Oberkiefer implantiert wurde, hatte er überhaupt kein Kinn. Ihm hing die Zunge einfach so aus dem Mund heraus, und nichts war darunter, was sie davon abhalten konnte. Zum Glück ist es jetzt besser. Er kann zumindest essen: Als er jünger war, brauchte er eine Magensonde. Und er kann sprechen. Er hat auch gelernt, seine Zunge im Mund zu behalten, wenn er dafür auch Jahre gebraucht hat. Er hat zudem gelernt, den Speichel zu kontrollieren, der ihm früher immer den ganzen Hals herunterlief. All das wird als Wunder angesehen. Als er ein Baby war, glaubten die Ärzte nicht, dass er überleben würde.
    Er kann auch hören. Die meisten Kinder, die mit derartigen Geburtsfehlern auf die Welt kommen, haben Probleme mit dem Mittelohr, was sie taub werden lässt, aber bisher kann

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