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Wunder

Wunder

Titel: Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R.J. Palacio
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sagt man nicht, Jack.«
    »Es stimmt, Mom.«
    »Du weißt doch gar nicht, wer er ist.«
    »Doch, weiß ich«, sagte ich, denn schon in der Sekunde, da sie begonnen hatte, über ihn zu sprechen, wusste ich, dass es der Junge war, der August heißt.

Die Eisdiele
     
    Ich weiß noch, wie ich ihn zum ersten Mal vor der Carvel-Eisdiele auf der Amesfort Avenue gesehen habe, als ich etwa fünf oder sechs war. Veronica, meine Babysitterin, und ich saßen auf einer Bank vor dem Laden zusammen mit meinem kleinen Bruder Jamie, der in seinem Kinderwagen hockte und zu uns aufschaute. Ich glaube, ich war total in mein Eis vertieft, denn ich bemerkte die Leute, die sich neben uns setzten, erst gar nicht.
    Irgendwann drehte ich dann den Kopf, um das Eis aus der Waffelspitze rauszusaugen, und in dem Moment sah ich ihn: August. Er saß direkt neben mir. Ich weiß, dass es nicht cool war, aber ich machte irgendwie »Uhhh«, als ich ihn sah, weil ich echt Angst gekriegt hab. Ich dachte, er trägt ne Zombiemaske oder so. Es war so ein »Uhhh«, wie man’s macht, wenn man einen Horrorfilm guckt und der Bösewicht aus dem Gebüsch springt. Egal, ich weiß, dass das nicht nett von mir war, und der Junge hörte es zwar nicht, dafür aber seine Schwester.
    »Jack! Wir müssen weiter!«, sagte Veronica. Sie war aufgestanden und drehte den Kinderwagen herum, weil Jamie, der den Jungen offenbar auch gerade bemerkt hatte, drauf und dran war, irgendwas Peinliches zu sagen. Also sprang ich ziemlich plötzlich auf, als wenn eine Biene auf mir gelandet wäre, und wetzte hinter Veronica her. Ich hörte, wie die Mutter von dem Jungen leise: »Okay, Leute, ich denke, es ist Zeit für uns«, sagte, und dann drehte ich mich noch einmal um, um sie mir anzuschauen. Der Junge schleckte an seiner Eiswaffel, seine Mom hob seinen Roller auf, und seine Schwester funkelte mich an, als wolle sie mich umbringen. Ich schaute schnell weg.
    »Veronica, was war denn mit dem Kind?«, flüsterte ich.
    »Sei still, Junge!«, sagte sie, und ihre Stimme klang wütend. Ich liebe Veronica, aber wenn sie wütend wurde, wurde sie richtig wütend. Währenddessen purzelte Jamie fast aus seinem Kinderwagen, weil er versuchte, noch einen Blick zu erhaschen, während Veronica ihn davonschob.
    »Aber, Vonica …«, sagte Jamie.
    »Ihr wart wirklich sehr ungezogen, Jungs! Sehr ungezogen!«, sagte Veronica, sobald wir eine weiteres Stück die Straße runtergegangen waren. »Derartig zu starren!«
    »Ich wollte das nicht!«, sagte ich.
    »Vonica«, sagte Jamie.
    »Und wir springen auf und flüchten«, brummelte Veronica vor sich hin. »Lieber Gott, die arme Frau. Ich sag euch was, Jungs: Jeden Tag sollten wir dem Herrn dafür danken, dass es uns so gut geht, habt ihr mich verstanden?«
    »Vonica!«
    »Was ist denn, Jamie?«
    »Ist Halloween?«
    »Nein, Jamie.«
    »Warum hat der Junge dann eine Maske aufgehabt?«
    Veronica antwortete nicht. Manchmal, wenn sie wütend war, antwortete sie nicht.
    »Er hatte keine Maske auf«, erklärte ich Jamie.
    »Sei still, Jack!«, sagte Veronica.
    »Warum bist du so wütend, Veronica?« Ich musste einfach fragen.
    Ich glaubte, das würde sie noch wütender machen, aber sie schüttelte nur den Kopf.
    »Es war schlimm, wie wir uns eben verhalten haben«, sagte sie. »So aufzuspringen, als wenn wir grad den Teufel gesehen hätten. Ich hatte Angst davor, was Jamie sagen würde, weißt du? Ich wollte nicht, dass er etwas sagt, was die Gefühle des kleinen Jungen verletzt hätte. Aber es war sehr schlimm, dass wir so weggegangen sind. Die Mom von dem Jungen wusste genau, was los war.«
    »Aber wir haben es doch nicht böse gemeint«, sagte ich.
    »Jack, manchmal meint man etwas nicht böse und verletzt trotzdem jemanden. Verstehst du das?«
    Das war das erste Mal, dass ich August bei uns im Viertel sah, zumindest das erste Mal, an das ich mich erinnere. Aber ich habe ihn seitdem oft gesehen: ein paar Mal auf dem Spielplatz, manchmal im Park. Eine Zeit lang hat er einen Astronautenhelm getragen. Aber ich wusste immer, dass er es war, der unter dem Helm steckte. Alle Kinder in der Nachbarschaft wussten, dass er es war. Jeder hat August irgendwann einmal gesehen. Wir alle kennen seinen Namen, auch wenn er unseren nicht kennt.
    Und immer wenn ich ihn gesehen habe, habe ich versucht, mich an das zu erinnern, was Veronica gesagt hat. Aber es ist schwer. Es ist schwer, nicht noch mal einen zweiten Blick auf ihn zu werfen. Es ist schwer, sich normal zu verhalten,

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