Wunschloses Unglück - Erzählung
nicht, was ihr fehlte; das übliche Frauenleiden? die Wechseljahre?
In ihrer Mattheit griff sie an Sachen vorbei, die Hände rutschten ihr vom Körper herunter. Nach dem Abwaschen lag sie am Nachmittag ein bißchen auf dem Küchensofa, im Schlafzimmer war es so kalt. Manchmal war der Kopfschmerz so stark, daß sie niemanden erkannte. Sie wollte nichts mehr sehen. Bei dem Dröhnen im Kopf mußte man auch sehr laut zu ihr reden. Sie verlor jedes Körpergefühl, stieß sich an Kanten, fiel Treppen hinunter. Das Lachen tat ihr weh, sie verzog nur manchmal das Gesicht. Der Arzt sagte, wahrscheinlich sei ein Nerv eingeklemmt. Sie sprach nur mit leiser Stimme, war so elend, daß sie nicht einmal mehr jammern konnte. Sie neigte den Kopf seitlich auf die Schulter, aber der Schmerz folgte ihr dorthin nach. »Ich bin gar kein Mensch mehr.«
Als ich im letzten Sommer bei ihr war, fand ich sie einmal auf ihrem Bett liegen, mit einem so trostlosen Ausdruck, daß ich ihr nicht mehr näher zu treten wagte. Wie in einem Zoo lag da die fleischgewordene animalische Verlassenheit. Es war eine Pein zu sehen, wie schamlos sie sich nach außen gestülpt hatte; alles an ihr war verrenkt, zersplittert, offen, entzündet, eine Gedärmeverschlingung. Und sie schaute von weitem zu mir her, mit einem Blick, als sei ich, wie Karl Rossmann für den sonst von allen erniedrigten Heizer in Kafkas Geschichte, ihr GESCHUNDENES HERZ . Erschreckt und verärgert bin ich sofort aus dem Zimmer gegangen.
Seit dieser Zeit erst nahm ich meine Mutter richtig wahr. Bis dahin hatte ich sie immer wieder vergessen, empfand höchstens manchmal einen Stich bei dem Gedanken an die Idiotie ihres Lebens. Jetzt drängte sie sich mir leibhaftig auf, sie wurde fleischlich und lebendig, und ihr Zustand war so handgreiflich erfahrbar, daß ich in manchen Augenblicken ganz daran teilnahm.
Und auch die Leute in der Gegend betrachteten sie auf einmal mit anderen Augen: es war, als sei sie dazu bestimmt worden, ihnen das eigene Leben vorzuführen. Sie fragten zwar nach dem Warum und Weshalb, aber nur nach außen hin; sie verstanden sie auch so.
Sie wurde fühllos, erinnerte sich an nichts mehr, erkannte nicht einmal mehr die gewohnten Haushaltsgeräte. Wenn der jüngste Sohn aus der Schule nach Hause kam, fand er immer öfter Zettel auf dem Tisch, daß sie spazierengegangen sei; er solle sich Brote machen oder bei der Nachbarin essen. Diese Zettel, von einem Kassenblock abgerissen, häuften sich in der Schublade.
Sie konnte nicht mehr die Hausfrau spielen. Zu Hause wachte sie schon mit wundem Körper auf. Sie ließ alles zu Boden fallen, wollte sich jedem Gegenstand nachfallen lassen.
Die Türen stellten sich ihr in den Weg, von den Mauern schien im Vorbeigehen der Schimmel zu regnen.
Wenn sie fernsah, bekam sie nichts mehr mit. Sie machte eine Handbewegung nach der andern, um dabei nicht einzuschlafen.
Auf den Spaziergängen vergaß sie sich manchmal. Sie saß am Waldrand, möglichst weit von den Häusern entfernt, oder am Bach unterhalb eines aufgelassenen Sägewerks. Der Anblick der Getreidefelder oder des Wassers linderte zwar nichts, aber betäubte zwischendurch wenigstens. In dem Durcheinander von Anblicken und Gefühlen, wo jeder Anblick sofort zu einer Qual wurde, die sie schnell woanders hinblicken ließ, wo der nächste Anblick sie weiterquälte, ergaben sich so tote Punkte, an denen die Affenschaukel-Umwelt sie kurz ein wenig in Ruhe ließ.
Sie war in diesen Momenten nur müde, erholte sich von dem Wirbel, gedankenlos in das Wasser vertieft.
Dann stellte sich in ihr wieder alles quer zu der Umwelt, sie strampelte vielleicht panisch, konnte sich aber nicht mehr zurückhalten und kippte aus der Ruhelage heraus. Sie mußte aufstehen und weitergehen.
Sie erzählte mir, wie sie noch im Gehen das Grausen würgte; sie konnte deswegen nur ganz langsam gehen. Sie ging und ging, bis sie sich vor Mattheit wieder setzen mußte. Dann mußte sie bald aufstehen und wieder weitergehen.
So vertrödelte sie oft die Zeit und merkte nicht, daß es dunkel wurde. Sie war nachtblind und fand nur schwer den Weg zurück. Vor dem Haus blieb sie stehen, setzte sich auf eine Bank, wagte sich nicht hinein.
Wenn sie dann doch hereinkam, öffnete sich die Tür ganz langsam, und die Mutter erschien mit weitaufgerissenen Augen wie ein Geist.
Aber auch am Tag irrte sie meist nur herum, verwechselte Türen und Himmelsrichtungen. Oft konnte sie sich nicht erklären, wie sie irgendwohin
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