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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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oder soziologischen Traumdeutungstabelle wahrscheinlich mühelos auflösen könnte, dann im eigenen Interesse, weil ich auflebe, wenn mir etwas zu tun gibt, und schließlich, weil ich diesen FREITOD geradeso wie irgendein außenstehender Interviewer, wenn auch auf andre Weise, zu einem Fall machen möchte.
    Natürlich sind alle diese Begründungen ganz beliebig und durch andre, gleich beliebige, ersetzbar. Da waren eben kurze Momente der äußersten Sprachlosigkeit und das Bedürfnis, sie zu formulieren – die gleichen Anlässe zum Schreiben wie seit jeher.
    Als ich zur Beerdigung kam, fand ich im Geldtäschchen meiner Mutter noch einen Briefaufgabeschein mit der Nummer 432. Sie hatte mir noch am Freitagabend, bevor sie nach Hause ging und die Tabletten nahm, einen eingeschriebenen Brief mit einer Testamentsdurchschriftnach Frankfurt geschickt. (Warum aber auch EXPRESS ?) Am Montag war ich im selben Postamt, um zu telefonieren. Es war zweieinhalb Tage nach ihrem Tod, und ich sah vor dem Postbeamten die gelbe Rolle mit den Einschreibeetiketts liegen: inzwischen waren neun weitere eingeschriebene Briefe abgeschickt worden, die nächste Nummer war jetzt die 442, und dieses Bild war der Zahl, die ich im Kopf hatte, so ähnlich, daß ich auf den ersten Blick durcheinanderkam und ganz kurz alles für ungültig hielt. Die Lust, jemandem davon zu erzählen, heiterte mich richtig auf. Es war ja so ein heller Tag; der Schnee; wir aßen Leberknödelsuppe; »es begann mit…«: wenn man so zu erzählen anfangen würde, wäre alles wie erfunden, man würde den Zuhörer oder den Leser nicht zu einer privaten Teilnahme erpressen, sondern ihm eben nur eine recht phantastische Geschichte vortragen.
    Es begann also damit, daß meine Mutter vor über fünfzig Jahren im gleichen Ort geboren wurde, in dem sie dann auch gestorben ist. Was von der Gegend nutzbar war, gehörte damals der Kirche oder adeligen Grundbesitzern; ein Teil davon war an die Bevölkerung verpachtet, die vor allem aus Handwerkern und kleinen Bauern bestand. Die allgemeine Mittellosigkeit war so groß, daß Kleinbesitz an Grundstücken noch ganz selten war. Praktisch herrschten noch die Zustände von vor 1848, gerade, daß die formelle Leibeigenschaft aufgehoben war. Mein Großvater – er lebt noch und ist heute sechsundachtzig Jahre alt – war Zimmermann und bearbeitete daneben mit Hilfe seiner Frau ein paar Äcker und Wiesen, für die er einen jährlichen Pachtzins ablieferte. Er ist slowenischer Abstammung und unehelich geboren, wie damals die meisten Kinder der kleinbäuerlichen Bewohner, die, längst geschlechtsreif, zum Heiraten keine Mittel und zur Eheführung keine Räumlichkeiten hatten. Seine Mutter wenigstens war die Tochter eines recht wohlhabenden Bauern, bei dem sein Vater, für ihn nicht mehr als »der Erzeuger«, als Knecht hauste. Immerhin bekam seine Mutter auf diese Weise die Mittel zum Kauf eines kleinen Anwesens.
    Nach Generationen von besitzlosen Knechtsgestalten mit lückenhaft ausgefüllten Taufscheinen, in fremden Kammern geboren und gestorben, kaum zu beerben, weil sie mit der einzigen Habe, dem Feiertagsanzug, ins Grab gelegt wurden, wuchs so der Großvater als erster in einer Umgebung auf, in der er sich auch wirklich zu Hause fühlen konnte, ohne gegen tägliche Arbeitsleistung nur geduldet zu sein.
    Zur Verteidigung der wirtschaftlichen Grundsätze der westlichen Welt war vor kurzem im Wirtschaftsteil einer Zeitung zu lesen, daß Eigentum VERDINGLICHTE FREIHEIT sei. Für meinen Großvater damals, als dem erstenEigentümer, wenigstens von unbeweglichem Besitz, in einer Serie von Mittellosen und so auch Machtlosen, traf das vielleicht wirklich noch zu: das Bewußtsein, etwas zu besitzen, war so befreiend, daß nach generationenlanger Willenlosigkeit sich plötzlich ein Wille bilden konnte: noch freier zu werden, und das hieß nur, und für den Großvater in seiner Situation sicher zu Recht: den Besitz zu vergrößern.
    Der Anfangsbesitz war freilich so klein, daß man fast seine ganze Arbeitskraft brauchte, um ihn auch nur zu erhalten. So blieb die einzige Möglichkeit der ehrgeizigen Kleinbesitzer: das Sparen.
    Mein Großvater sparte also, bis er in der Inflation der zwanziger Jahre das Ersparte wieder verlor. Dann fing er wieder zu sparen an, nicht nur, indem er übriges Geld aufeinanderlegte, sondern vor allem auch, indem er die eigenen Bedürfnisse unterdrückte und diese gespenstische Bedürfnislosigkeit auch seinen Kindern

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