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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sich rasch entfernten, auf die unbeweglichen Bäume: erstmals erschien mir die Natur wirklich unbarmherzig. Das waren also die Tatsachen! Der Wald sprach für sich. Außer diesen unzähligen Baumgipfeln zählte nichts; davor ein episodisches Getümmel von Gestalten, die immer mehr aus dem Bild gerieten. Ich kam mir verhöhnt vor und wurde ganz hilflos. Auf einmal hatte ich in meiner ohnmächtigenWut das Bedürfnis, etwas über meine Mutter zu schreiben.
    Nachher im Haus ging ich am Abend die Treppe hinauf. Plötzlich übersprang ich ein paar Stufen mit einem Satz. Dabei kicherte ich kindisch, mit einer fremden Stimme, als würde ich bauchreden. Die letzten Stufen lief ich. Oben schlug ich mir übermütig die Faust auf die Brust und umarmte mich. Langsam, selbstbewußt wie jemand mit einem einzigartigen Geheimnis, ging ich dann die Treppe wieder hinunter.
    Es stimmt nicht, daß mir das Schreiben genützt hat. In den Wochen, in denen ich mich mit der Geschichte beschäftigte, hörte auch die Geschichte nicht auf, mich zu beschäftigen. Das Schreiben war nicht, wie ich am Anfang noch glaubte, eine Erinnerung an eine abgeschlossene Periode meines Lebens, sondern nur ein ständiges Gehabe von Erinnerung in der Form von Sätzen, die ein Abstandnehmen bloß behaupteten. Noch immer wache ich in der Nacht manchmal schlagartig auf, wie von innen her mit einem ganz leichten Anstupfen aus dem Schlaf gestoßen, und erlebe, wie ich bei angehaltenem Atem vor Grausen von einer Sekunde zur andern leibhaftig verfaule. Die Luft steht im Dunkeln so still, daß mir alle Dinge aus dem Gleichgewicht geraten und losgerissen erscheinen. Sie treiben nur eben noch ohne Schwerpunkt lautlos ein bißchen herum und werden gleich endgültig von überall niederstürzen und mich ersticken. In diesen Angststürmen wird man magnetisch wie ein verwesendes Vieh, und anders als im interesselosen Wohlgefallen, wo alle Gefühle frei miteinander spielen, bestürmt einen dann zwanghaft das interesselose, objektive Entsetzen.
    Natürlich ist das Beschreiben ein bloßer Erinnerungsvorgang; aber es bannt andrerseits auch nichts für das nächste Mal, gewinnt nur aus den Angstzuständen durch den Versuch einer Annäherung mit möglichst entsprechenden Formulierungen eine kleine Lust, produziert aus der Schreckens- eine Erinnerungsseligkeit.
    Tagsüber habe ich oft das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich mache Türen auf und schaue nach. Jedes Geräusch empfinde ich zunächst als einen Anschlag auf mich.
    Manchmal bin ich freilich während der Arbeit an der Geschichte all der Offenheit und Ehrlichkeit überdrüssig gewesen und habe mich danach gesehnt, bald wieder etwas zu schreiben, wobei ich auch ein bißchen lügen und mich verstellen könnte, zum Beispiel ein Theaterstück.
    Einmal ist mir beim Brotschneiden das Messer abgerutscht, und mir kam sofort wieder zu Bewußtsein, wie sie den Kindern am Morgen kleine Brotstücke in die warme Milch geschnitten hatte.
    Mit ihrem Speichel reinigte sie den Kindern oft im Vorübergehen schnell Nasenlöcher und Ohren. Ich zuckte immer zurück, der Speichelgeruch war mir unangenehm.
    In einer Gesellschaft, die eine Bergwanderung machte, wollte sie einmal beiseitegehen, um die Notdurft zu verrichten. Ich schämte mich ihrer und heulte, da hielt sie sich zurück.
    Im Krankenhaus lag sie immer unter vielen in großen Sälen. Ja, das gibt es noch! Sie drückte mir dort einmal lange die Hand.
    Wenn alle versorgt waren und fertig gegessen hatten, steckte sie sich jeweils kokett die übriggebliebenen Rinden in den Mund.
    (Natürlich sind das Anekdoten. Aber wissenschaftliche Ableitungen wären in diesem Zusammenhang genauso anekdotisch. Die Ausdrücke sind alle zu milde.)
    Die Eierlikörflasche in der Kredenz!
    Die schmerzliche Erinnerung an sie bei den täglichen Handgriffen, vor allem in der Küche.
    Im Zorn schlug sie die Kinder nicht, sondern schneuzte ihnen höchstens heftig die Nase.
    Todesangst, wenn man in der Nacht aufwacht, und das Licht im Flur brennt.
    Vor einigen Jahren hatte ich den Plan, mit allen Mitgliedern der Familie einen Abenteuerfilm zu drehen, der mit ihnen persönlich gar nichts zu tun hätte.
    Als Kind war sie mondsüchtig.
    Gerade an den Wochen tagen ihres Todes sind mir in der ersten Zeit ihre Todeswehen besonders lebendig geworden. Schmerzhaft hat es jeden Freitag zu dämmern angefangen und wurde dunkel. Die gelbe Dorfstraßenbeleuchtung im Nachtnebel; schmutziger Schnee und Kanalgestank; verschränkte

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