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sich zu fragen, ob die Eliteuniversitäten nicht zunehmend den Kontakt verloren zu der ganz normalen Schulpraxis. Sein eigenes Hauptproblem bestand zum Beispiel darin, überhaupt erst einmal eine Handvoll Schüler zusammenzubekommen, die in Französisch die Mindestanforderungen erfüllten, um in die Oberstufe zu kommen. Wenn sie sich dann glücklich qualifiziert hatten, ruhten sie sich auf ihren Lorbeeren aus. Nach den langen Sommerferien hatten sie dann das meiste vergessen. Er hätte gern gewußt, ob das an anderen Schulen anders war oder ob er vielleicht irgend etwas falsch machte.
Die Aussprache nach dem Mittagessen über die Vorteile des Nuffield-Modells für den Französischunterricht war zum Glück wesentlich ungezwungener, und Acum fühlte sich schon etwas wohler. Der Professor, der vorhin Racine auf den Schild gehoben hatte, votierte nachdrücklich für die unbezweifelbare Notwendigkeit einer gründlichen formal-grammatischen Schulung in den Fremdsprachen – auch und gerade in den neueren Sprachen! Denn wenn man an der Schule nicht mehr bereit und in der Lage war, Racine und Molière zu lesen, er betone, ohne die Gefahr auch nur des geringsten Übersetzungsfehlers, dann konnten sie alle die Literatur gleich vergessen, ja, er stehe nicht an zu sagen: alle Bildungswerte vergessen! Es klang überaus beeindruckend. Und dann war dieser untersetzte Typ aus Bradford aufgestanden und hatte die ganze akademische Diskussion mit einem Paukenschlag wieder auf den Boden zurückgeholt: Ihm persönlich würde es völlig reichen, wenn seine Schüler es schafften, bei einem französischen Gemüsehändler ein Pfund Möhren einzukaufen. Mit diesem ehrlichen Bekenntnis hatte er der schweigenden Mehrheit des Kongresses offenbar aus dem Herzen gesprochen, denn im Saal brach geradezu ein Sturm des Beifalls und erleichterten Gelächters los. Ein würdiger alter Graubart hieb in dieselbe Kerbe. Ironisch gab er zu bedenken, daß kein Engländer, nicht einmal einer, der das Glück gehabt hätte, seine Muttersprache in Yorkshire zu erlernen, auf seiner Suche nach einem Pissoir in Paris jemals an unüberschreitbaren Sprachbarrieren gescheitert sei.
Von jetzt an war das Eis gebrochen. Der Kongreß hätte eigentlich eine ganz offizielle Danksagung an den stämmigen Mann aus Bradford mit seinem Pfund Möhren beschließen müssen. Die Beteiligung war auf einmal viel lebhafter, und auch Acum war manchmal drauf und dran, sich zu Wort zu melden. Aber die Rednerliste war schon ellenlang. Die Teilnehmerzahl war eben einfach zu hoch. Es würde überhaupt nicht auffallen, wenn der eine oder andere fehlte.
Er wollte jedenfalls heute abend schwänzen und ausgehen. Niemand würde ihn vermissen, und bis 11 Uhr, wenn der Pförtner den Collegeeingang abschloß, war er längst zurück.
Um vier Uhr klingelte es. Die letzte Schulstunde war beendet. Gleich darauf flogen die Klassentüren auf, und im Nu waren die Flure von umherwimmelnden Schülern erfüllt – die einen wollten zur Garderobe, andere zum Fahrradschuppen, wieder andere hatten noch Arbeitsgemeinschaften. Immun gegen den Lärm und das Gerenne und Geschiebe um sie herum, bahnten sich die Lehrer gemächlich ihren Weg zum Lehrerzimmer, um zur Entspannung eine Zigarette zu rauchen, mit Kollegen zu reden oder sich hinzusetzen und Hefte zu korrigieren. Nach und nach würde sich das Gebäude leeren. Wieder war ein Schultag vorbei.
Baines kam ins Lehrerzimmer, einen Stapel Hefte unter dem Arm. Gerade hatte er Schüler aus den achten Klassen in seinem Mathematikkurs eine Übungsarbeit schreiben lassen. Es waren an die dreißig Hefte. Er packte sie auf den Tisch. Für jedes Heft zwanzig Sekunden – nicht mehr. Alle zusammen zehn Minuten. Eigentlich konnte er das sofort hinter sich bringen. Gut, daß er nicht Englisch- oder Geschichtsarbeiten nachzusehen hatte, da mußte man immer so viel lesen. Er hatte sich über die Jahre darin geübt, mit einem einzigen Blick eine ganze Seite zu erfassen. Ja, er würde es gleich erledigen.
»Mr. Phillipson hätte Sie gern gesprochen«, sagte Mrs. Webb.
»Oh – jetzt sofort?«
»Sobald Sie vom Unterricht zurück wären, sagte er.«
Baines klopfte flüchtig an und trat ein.
»Nehmen Sie bitte Platz.«
Baines ließ sich zögernd nieder. Der Unterton in Phillipsons Stimme gefiel ihm nicht. Er klang wie ein Arzt, der einem in den nächsten fünf Minuten eröffnet, daß man nur noch ein paar Monate zu leben hat.
»Inspector Morse will morgen noch einmal
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