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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

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Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Montag abend hatte Baines die Haustür geöffnet. Vor ihm stand unerwarteter Besuch.
    »Na, so was! Das ist aber eine Überraschung. Wollen Sie nicht hereinkommen? Sie können mir Ihren Mantel geben.«
    »Nein, den lasse ich ganz gern an.«
    »Aber ich darf Ihnen etwas zu trinken anbieten? Viel Auswahl habe ich leider nicht.«
    »Bitte. Wenn Sie wollen.«
    Baines ging seinem Gast voran in die kleine Küche, öffnete den Kühlschrank und sah hinein. »Ich habe Bier da. Ein Lager?«
    »Ja, gut.«
    Baines ging in die Hocke. Seine linke Hand lag oben auf dem Kühlschrank. Die Fingernägel waren nicht ganz sauber. Er beugte sich vor, um mit der Rechten nach der weiter hinten stehenden Bierdose zu greifen. Auf seinem Hinterkopf zeichneten sich hell zwei haarlose Stellen ab, nur einige spärliche graue Büschel verhinderten, daß sie sich zu einer großen kahlen Fläche vereinigten. Sein Hemd stand oben offen, der Kragen war schon angeschmutzt. Morgen hätte er es gewechselt.
     
     

Kapitel Neunzehn
     
    Eines Morgens vermißte ich ihn auf dem gewohnten H ü gel
    Thomas Gray, Elegie,
    geschrieben auf einem ländlichen Kirchhof
     
    Die Morgenandacht, zu der sich immer die ganze Roger-Bacon-Gesamtschule versammelte, begann um 8 Uhr 50. Die Lehrer standen an der Rückwand der großen Aula. Sie trugen die akademischen Talare mit den Insignien ihrer jeweiligen Universitäten – jedenfalls die unter ihnen, die das Recht dazu erworben hatten. Der Direktor legte darauf großen Wert. Pünktlich auf die Sekunde schritt die Dreierformation aus Direktor und – gleich hinter ihm – seinem Stellvertreter und der dienstältesten Lehrerin, ebenfalls alle im feierlichen Talar, durch den Mittelgang. Die Schüler erhoben sich von ihren Plätzen. Die kleine Prozession stieg die Stufen zum Podium empor. Das Ritual, das nun folgte, war immer dasselbe: ein Choral wurde gesungen, ein gemeinsames Gebet gesprochen, ein Abschnitt aus der Heiligen Schrift vorgelesen – und für einen weiteren Tag hatte man dem Allmächtigen den schuldigen Respekt erwiesen. Das letzte Amen , bei dem der Einsatz nie ganz klappte, beendete den geistlichen Teil und war für den stellvertretenden Schulleiter das Stichwort, die Aufmerksamkeit der Versammlung auf irdischere Gegenstände zu lenken. Klar und gemessen machte er jeden Morgen seine Ankündigungen. Es ging um Änderungen des Stundenplans, die durch das Fehlen von Lehrern notwendig wurden, um die Aktivitäten der ›Häuser‹, in die die Schülerschaft eingeteilt war, um die Termine der Arbeitsgemeinschaften und die Ergebnisse der sportlichen Wettkämpfe, an denen die Schule sich beteiligt hatte. Ganz zum Schluß las er immer mit Grabesstimme eine Liste mit den Namen der Schüler vor, die sich gleich im Anschluß an die Andacht vor dem Lehrerzimmer einzufinden hatten: die Widerspenstigen, die Rebellen, die Störer, die Bummelanten, die Schwänzer – alle, die von den geheiligten Regeln des Gemeinschaftslebens abwichen.
    Als an diesem Dienstag morgen die Prozession den Mittelgang hinabschritt und alle von ihren Sitzen aufstanden, steckten viele die Köpfe zusammen und fragten flüsternd, wo Baines denn heute bleibe. Nicht einmal die Schüler der Abschlußklassen konnten sich erinnern, daß er je auch nur einen Tag gefehlt hatte. Die dienstälteste Lehrerin wirkte, wie sie da ohne ihren gewohnten Begleiter seitlich hinter dem Direktor ging, unglücklich und verloren; es war fast wie die Auflösung der Dreieinigkeit. Phillipson übernahm es heute selbst, die Ankündigungen zu verlesen; auf die Abwesenheit seines Stellvertreters ging er mit keinem Wort ein. Die Hockeymannschaft der Mädchen hatte überraschend einen entscheidenden Sieg errungen, und die versammelten Schüler nahmen die Nachricht mit Begeisterung auf. Der Schachklub traf sich heute im Physikraum, und die gesamte 4c mußte wegen nicht näher bezeichneter Missetaten nachsitzen. Folgende Schüler hatten sich nachher vor dem Lehrerzimmer … usw. usw. Phillipson trat vom Rednerpult zurück und verließ die Schulversammlung durch einen Seitenausgang. Die Schüler begannen laut zu schwatzen und machten sich auf den Weg in ihre Klassenräume.
     
    Gegen Mittag erkundigte sich Phillipson bei Mrs. Webb: »Hat Mr. Baines immer noch nichts von sich hören lassen?«
    »Nein. Soll ich nicht mal versuchen, ihn zu Hause zu erreichen?« Phillipson überlegte einen Augenblick. »Das wäre vielleicht ganz gut. Sie kennen ihn doch länger als ich. Ist so etwas

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