Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
als sie nach dem Mittagessen von zu Hause fortging, ein paar Sachen eingepackt hatte, einen Rock, eine Bluse … Joe Godberry meinte sich ja erinnern zu können, daß sie eine Tasche dabeihatte. Sehr groß kann sie nicht gewesen sein, das wäre aufgefallen. Die Nachbarn, falls einer von ihnen aus dem Fenster schaute, sollten ja denken, sie sei auf dem Weg zur Schule. Wie sich herausgestellt hat, ist sie beim Verlassen ihres Elternhauses von niemandem gesehen worden, aber das war reiner Zufall. Ich denke, sie wird, nachdem sie an Godberrys Zebrastreifen vorbei war, weiter die Hauptstraße hinuntergegangen sein. Dort wo die Geschäfte anfangen, gibt es eine öffentliche Toilette. Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich da umgezogen, ihre Schuluniform gegen etwas Schickeres eingetauscht hat. Ein paar Ecken weiter, kurz vor dem Kreisverkehr, wartete dann vermutlich Phillipson mit dem Wagen auf sie. Sie wird sicherlich außer der kleinen Tasche noch ein größeres Gepäckstück mitgenommen haben, einen Koffer oder eine Reisetasche, die schon irgendwann am Vortag eingeladen worden war. Er hat sie nach Oxford zum Bahnhof gefahren, dort abgesetzt, Blackwell einen Besuch abgestattet und den Momigliano erstanden. Um drei Uhr war er wieder zu Hause.« Morse hielt inne und sah Lewis erwartungsvoll an. »So ungefähr, denke ich, wird es gewesen sein. Na?«
    »Und dann, nachdem sie die Klinik hinter sich hat, stellt sie fest, daß es ihr in London gefällt, lernt ein paar von den Leuten kennen, die sich da ein flottes Leben machen, und beschließt, nicht mehr nach Hause zurückzukehren?«
    »So ungefähr«, sagte Morse. Es klang auf einmal sehr viel weniger überzeugt.
    »Dann haben die uns also für nichts und wieder nichts eingeschaltet? Die ganze Suchaktion …« Lewis konnte es nicht glauben.
    »Sie haben sich wahrscheinlich nicht klargemacht, was ihre Anzeige auslösen würde.«
    »Na, jetzt wissen sie’s.«
    Morse schien sich zunehmend unbehaglich zu fühlen. »Wie ich Ihnen eben schon sagte – vieles von dem, was ich jetzt geschildert habe, ist natürlich nur Vermutung. Fest steht meiner Ansicht nach nur zweierlei. Das erste ist, daß Valerie Phillipsons Karriere hätte zerstören können. Geschlechtsverkehr mit einer minderjährigen Schülerin, auch wenn sie damals noch gar nicht seine Schülerin war, das ist doch reinstes Dynamit. Was meinen Sie, was das für Schlagzeilen gegeben hätte! Und das zweite ist, daß Valerie ein Kind erwartete, das sie ganz sicher nicht haben wollte. In ihrem Alter! Und ihre Eltern werden auch nicht gerade erbaut davon gewesen sein.«
    »Aber heute sieht man das doch alles viel großzügiger«, sagte Lewis. »Es gibt doch schon eine Menge Eltern, die sich vielleicht sogar auf einen Enkel freuen würden.«
    Morse ärgerte sich über Lewis’ Einwand und sagte schroff: »Die Taylors gehören offenbar nicht dazu. Sonst hätten sie dieses Versteckspiel wohl kaum mitgemacht; sie tun ja selbst heute noch alles, damit die Sache bloß nicht aufkommt.«
    Seine Zuversicht war inzwischen umgeschlagen in ein Gefühl bitteren Ungenügens an sich selbst. Er vermochte sehr viel genauer, als Lewis es gekonnt hätte, die Punkte anzugeben, an denen sich zeigte, daß er den Fall noch nicht genügend durchdacht hatte, daß es noch viel zu viele Widersprüche und Ungereimtheiten gab.
    »Wissen Sie, Lewis, ich glaube, in meinen Überlegungen ist der Wurm drin. Ich muß irgendwo einen Fehler gemacht haben …« Plötzlich strafften sich seine Schultern. »Wir werden versuchen, ihn zu finden.«
    »Sie sind jetzt also auch der Ansicht, daß Valerie noch lebt, Sir?«
    Morse trat mit bemerkenswerter Haltung den Rückzug an. »Ja, ich denke schon. Wenn sie den Brief geschrieben hat, und das ist es ja schließlich, wovon Sie mich von Anfang an immer wieder zu überzeugen versucht haben …«
    Da konnte Lewis nur staunen. Der Chef hatte manchmal wirklich Nerven! Die ganze Zeit über war für jeden, der den Fall halbwegs nüchtern betrachtete, klar gewesen, daß es darum ging, ein vermißtes Mädchen wiederzufinden. Solche Fälle gab es jeden Tag etliche. Das hatte Morse selbst zugegeben. Und was hatte er dann aus der Sache gemacht?
    Aber vielleicht ließ sich aus dem Wust von spinnerten Hypothesen, irrigen Annahmen, verrückten Mutmaßungen noch irgendein Bruchstück retten. Valerie und Phillipson … Ja, schon möglich, aber warum das ganze phantastische Drumherum? Der Kleiderwechsel auf der Damentoilette und

Weitere Kostenlose Bücher