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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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hier vorbeikommen. Ich nehme an, Sie wußten das schon?« Baines nickte. »Er möchte mit uns beiden sprechen – und zwar zusammen.«
    »Davon hat er mir gegenüber nichts erwähnt.«
    »Dann hat er es wohl nicht für nötig gehalten.« Baines schwieg. »Sie wissen, was das vermutlich bedeutet?«
    »Er ist gewieft.«
    »Zweifellos. Aber Sie werden zusehen, daß er nichts erfährt.« Phillipsons Stimme klang hart, duldete keinen Widerspruch. So sprach ein Lehrer zu einem unbotmäßigen Schüler. »Ich hoffe, die Bedeutung meiner Worte ist Ihnen klar, Baines. Sie halten auf jeden Fall den Mund!«
    »Kann ich mir vorstellen, daß Ihnen das lieb wäre.«
    »Ich warne Sie, Baines!« Phillipsons Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Auch der letzte Anschein von gerade noch gewahrter Form ging verloren, und was dahinter hervorkam, war der blanke Haß.
    Baines stand langsam auf, diesen Augenblick absoluter Macht über den anderen voll auskostend. »Treiben Sie mich nicht zu weit, Phillipson. Und vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben!«
    »Machen Sie, daß Sie rauskommen!« zischte Phillipson. Das Blut pochte ihm in den Schläfen. Er war Nichtraucher, doch jetzt hatte er das dringende Bedürfnis nach einer Zigarette. Mehrere Minuten saß er bewegungslos an seinem Schreibtisch, unfähig, sich zu rühren. Wie lange würde er noch mit diesem Alptraum leben müssen? Was für eine Erleichterung wäre es, dem allen ein Ende zu machen – so oder so.
    Allmählich wurde er ruhiger. Wieder stieg die Erinnerung an den Tag seiner Vorstellung in ihm auf. Wie lange war das jetzt her? Fast vier Jahre. Und noch immer quälten ihn schuldbeladene Gedanken, wenn er an die Nacht dachte, die dem Tag gefolgt war. Diese Nacht … er würde sie wohl nie mehr vergessen.
    Er wußte noch genau, mit welchem Gefühl er damals nach dem Gespräch an der Bushaltestelle gestanden und gewartet hatte – so optimistisch und mit sich zufrieden.
     
    Natürlich ließ sich noch nichts Bestimmtes sagen, aber doch, ja – er hatte seine Sache gut gemacht. Er rief sich die einzelnen Phasen des Gesprächs noch einmal ins Gedächtnis zurück: ihre Fragen – klug, und zugleich auch wieder töricht – und seine sorgfältig überlegten und, da war er sicher, gut formulierten Antworten … Er hatte nicht mitbekommen, wie sie das Wartehäuschen betreten hatte.
     
     

Kapitel Achtzehn
     
    In philologischen Werken bezeichnet das Kreuz † ein obs o letes Wort. Dasselbe Zeichen, vor den Namen einer Pe r son gesetzt, bedeutet › verstorben ‹ .
    Regeln für Setzer und Korrektoren, Oxford University Press
     
    In dieser Montagnacht, genauer gesagt war es Dienstag früh, kam Morse nicht vor zwei Uhr ins Bett. Er fühlte sich, als hätte er zuviel gearbeitet und zuwenig getrunken. Die Euphorie vom Vormittag war vollständig verflogen; nicht nur, weil Lewis so skeptisch gewesen war, sondern vor allem, weil Morse kein Talent hatte, sich lange selbst etwas vorzumachen. Einige Stücke des Puzzles hatte er zwar einordnen können, aber viele paßten überhaupt noch nicht, und ein paar schienen gar nicht hineinzugehören. Ihm fiel ein, wie er bei der Armee auf Farbenblindheit getestet worden war. Ein Blatt Papier mit einem chaotischen Durcheinander bunter Flächen und Linien hatte sich auf magische Weise verwandelt, wenn man es durch verschieden gefärbte kleine Glasscheiben betrachtete; ein roter Filter, und es erschien ein Elefant; ein blauer Filter, ein Löwe sprang einem entgegen; ein grüner Filter, sieh da, ein Esel! Esel … Hatte er nicht vor ein paar Tagen erst etwas über einen Esel gelesen? Aber wo? Morse gehörte nicht zu den Leuten, die Bücher systematisch von vorne bis hinten durchlasen; er blätterte mal hier, mal da und blieb hängen, wo ihn gerade etwas reizte. Er sah sich den kleinen Bücherstapel auf dem Nachttisch an: Lowes’ Straße nach Xanadu , Ausgewählte Short Stories von Kipling, Richard Wagners Leben und einen Band Pros a werke von A. E. Housman. Es mußte wohl bei Housman gewesen sein. Er zog das Buch heraus und begann, die Seiten zu überfliegen. Soweit er sich erinnerte, ging es um einen Esel, der sich nicht entscheiden konnte, welchen Heuhaufen er zuerst fressen sollte. War das dumme Tier nicht zuletzt sogar gestorben? Schließlich fand er, was er suchte.
     
    Ein Redakteur, der sich zwei Manuskripten gegenübersieht und, ohne zu einem Urteil zu kommen, unaufhörlich zwischen ihnen schwankt, muß mit jeder Faser seines Wesens fühlen,

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