. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
in den letzten vierzehn Tagen waren die Umstände alles andere als normal gewesen. Sie hatte nicht umsonst über zwölf Jahre mit Donald zusammengelebt, und jede seiner Seelenregungen war ihr vertraut. Nachts schlief sie neben ihm, er war ihr Mann, und sie kannte ihn. Sie wußte mit absoluter Sicherheit, daß, was ihn seit kurzem so schwer bedrückte, weder die Schule war noch der Inspector, dessen Besuch sie selbst so merkwürdig geängstigt hatte, noch auch das Gespenst jenes Mädchens, das ihn bis in seine Träume verfolgte. Nein – die Ursache war ein Mann. Ein Mann, den sie allmählich für wirklich böse, ja durch und durch schlecht hielt: Baines.
Es war kein bestimmter Vorfall, der sie dazu gebracht hatte, die Schublade ihres Mannes aufzuschließen und sich die Papiere darin anzusehen. Es war vielmehr eine Kette von kleineren Ereignissen, die sie zunehmend alarmiert hatten, und obwohl noch längst nicht entschieden war, wie sich die Dinge entwickeln würden, sah sie sie schon ausweglos auf eine Katastrophe zutreiben. In dieser Situation hatten die sonst in ihrer Ehe gültigen Gesetze des Umgangs miteinander – wie der Respekt vor dem Bereich des anderen – keine Gültigkeit mehr für sie. Wußte Donald überhaupt, daß sie auch einen Schlüssel zu dieser Schublade besaß? Sicher nicht. Denn sonst hätte er Unterlagen, die er verbergen wollte, doch nicht hier aufbewahrt. So hatte sie also letzte Woche tatsächlich nachgesehen, gegen die inneren Stimmen, die sie warnten, und es war ihr einiges erschreckend klar geworden, vor allem: ihr Mann wurde erpreßt. Seltsam, aber sie fühlte sich stark genug, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Sie hatte mehr Mut, als sie sich selbst zugetraut hatte. Aber eins war gewiß. Sie würde keiner lebenden Seele je ein Wort davon erzählen – nie, nie, nie! Sie war seine Frau, und sie liebte ihn, und sie würde ihn immer lieben; und wenn es möglich war, so wollte sie ihn schützen, koste es, was es wolle. Vielleicht konnte sie ja sogar etwas tun …
Sie schien weder überrascht noch bestürzt zu sein, ihn zu sehen. In den letzten Tagen hatte sie eine Menge dazugelernt. Nicht nur, daß es besser war, sich den Problemen zu stellen anstatt vor ihnen davonzulaufen oder so zu tun, als gebe es sie nicht – es war auch sehr viel einfacher, denn es sparte ungeheuer viel Kraft.
»Können wir reden?« fragte Morse.
Sie nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe gleich hinter der Haustür neben einen teuer aussehenden Wintermantel von leuchtend kirschroter Farbe.
Als sie im Wohnzimmer waren, warf Morse einen schnellen Blick auf das Foto über dem schweren Mahagonisekretär, das er sich schon bei seinem ersten Besuch angesehen hatte.
»Nun, Inspector, was haben Sie für Fragen?«
»Wissen Sie das nicht?« fragte Morse ruhig.
»Ich fürchte, Sie müssen es mir schon sagen.« Sie lachte ein bißchen, und um ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln.
»Ich glaube, Sie können es sich ganz gut denken, Mrs. Phillipson. Und es wird für Sie und für mich wesentlich einfacher und angenehmer sein, wenn Sie gar nicht erst versuchten, mir etwas vorzumachen, denn – das eine kann ich Ihnen sagen – wir beide sind erst miteinander fertig, wenn ich von Ihnen die Wahrheit erfahren habe.« Da war keine Spur mehr von Höflichkeit in seinem Ton. Die Worte ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Vor allem aber erschreckte sie seine Direktheit, die, jede gesellschaftliche Konvention mißachtend, auf merkwürdige Art so etwas wie eine Vertrautheit herstellte. Ihre Angst beiseiteschiebend, versuchte sie abzuwägen, welche Chancen sie gegen ihn hatte. Das hing natürlich davon ab, ob er es wußte; aber das war kaum möglich.
»Die Wahrheit worüber?«
»Warum hören Sie nicht auf mit diesen Spielchen, Mrs. Phillipson? Ich hatte gehofft, wir könnten die Sache zwischen uns allein ausmachen. Deswegen bin ich jetzt gekommen, Mrs. Phillipson, während Ihr Mann noch in der Schule ist.«
Er bemerkte ein erstes ängstliches Flackern in ihren braunen Augen, aber sie sagte nichts. »Wenn Sie nichts zu verbergen haben, Mrs. Phillipson …« Sie zuckte unter den ständigen Wiederholungen ihres Namens unwillkürlich zusammen und fühlte sich in die Enge getrieben.
»Ich etwas zu verbergen? Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Wirklich nicht, Mrs. Phillipson? Nun, dann will ich es Ihnen sagen. Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie Mr. Baines am Montag abend einen Besuch
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