. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
Vorsicht und Rücksichtnahme hatten ihren ganzen Lebensweg geprägt; immer hatte sie unauffällig in den Kulissen gestanden und war nie ins Rampenlicht getreten.
Aber sie hatte doch etwas gesehen.
Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen und folgte einem ganz bestimmten Rhythmus. An Wochentagen stellte sie abends zwischen halb zehn und zehn ihre zwei Milchflaschen vor die Tür und legte die beiden Co-op-Gutscheine daneben. Anschließend schob sie den Riegel vor, machte sich in der Küche einen Kakao, sah sich noch die Zehn-Uhr-Nachrichten im Fernsehen an und ging dann zu Bett. Und am Montagabend war ihr, als sie vor die Haustür trat, etwas aufgefallen. Wenn sie da bloß schon gewußt hätte, daß es einmal wichtig sein würde! Aber sie hatte es nur ungewöhnlich gefunden; erst im nachhinein, als sie erfahren hatte, was geschehen war, war ihr zu Bewußtsein gekommen, wie ungewöhnlich. Eine Frau vor Baines’ Haustür! Das war noch nie vorgekommen. Aber war sie hineingegangen? Mrs. Thomas glaubte nicht, aber das war nun auch wieder merkwürdig, denn sie meinte bemerkt zu haben, daß im vorderen Zimmer hinter den vorgezogenen gelben Vorhängen Licht gebrannt hatte. Er mußte also dagewesen sein. Aber wenn sie ganz ehrlich war, so mußte sie zugeben, daß sie sich gar nicht allzu genau erinnern wollte ; denn die ganze Sache machte ihr inzwischen angst. Wenn nun die Frau, die sie zufällig einen Moment lang wahrgenommen hatte, wie sie an Baines Tür klingelte, diejenige war, die …? Dann hieß das, sie hatte seine Mörderin gesehen! Die Vorstellung ließ sie seit gestern abend nicht mehr los und jagte ihr jedesmal, wenn sie daran dachte, einen Schauder über den Rücken. Oh, bitte lieber Gott, nur das nicht! So etwas durfte man ihr nicht zumuten. Und während erneut Panik in ihr aufstieg, suchte sie einen flüchtigen Trost, indem sie sich einzureden versuchte, sie habe vielleicht alles nur geträumt.
Sie war hin- und hergerissen zwischen ihrer Angst, in irgend etwas Schreckliches verwickelt zu werden und der Hoffnung, daß es sie erleichtern könne, darüber zu sprechen, zumal sie wußte, daß es eigentlich auch ihre Pflicht war, denn es konnte wichtig sein. »Ich glaube, es ist besser, Sie kommen herein, Constable«, sagte sie.
Stunden später, am frühen Nachmittag, bereute sie ihren Entschluß fast schon wieder. Der Constable war nett und rücksichtsvoll gewesen, hatte ein bißchen mit ihr geschwatzt und ihr Zutrauen eingeflößt. Jetzt, im Büro dieses Mannes, der ihr in seinem schwarzen Ledersessel gegenübersaß, fühlte sie sich unsicher und verwirrt. Nicht daß er unfreundlich gewesen wäre – seine höfliche Zuvorkommenheit machte sie eher verlegen –, aber ungeachtet seines Lächelns blickten seine Augen hart und wach, und sie spürte hinter seinen Fragen eine nur mühsam verborgene Ungeduld.
»Können Sie sie beschreiben, Mrs. Thomas? Gab es irgend etwas, das sich Ihnen besonders deutlich eingeprägt hat?«
»Ja, ihr Mantel, aber das habe ich heute morgen schon dem Constable gesagt.«
»Ich weiß, daß Sie das getan haben, Mrs. Thomas, aber erzählen Sie es mir bitte trotzdem noch einmal. Ich möchte es selber von Ihnen hören.«
»Ja, also, zu erzählen gibt es da nicht viel. Es war ein roter Mantel. Ich habe mir die Farbe gemerkt, weil sie so auffallend war.«
»Sie sind sich da ganz sicher?«
Sie schluckte nervös. Aufs neue befielen sie Zweifel. Eigentlich glaubte sie schon, ganz sicher zu sein, sie war sich auch sicher, aber wenn nun die Täuschung gerade darin bestand?
»Ich bin mir – fast sicher.«
»Können Sie mir das Rot beschreiben?«
»Nun, so ähnlich wie … also rot eben.« Je länger sie nachdachte, um so unbestimmter wurde der Farbton in ihrer Erinnerung.
»Das reicht mir nicht«, sagte Morse scharf. »Damit kann ich nichts anfangen. Sie werden es ja wohl etwas genauer benennen können. Scharlachrot, zinnoberrot, weinrot, äh … himbeerrot, fliederfarben.« Sein Einfallsreichtum, was Nuancen von Rot anging, war damit erschöpft. Mrs. Thomas schwieg und sah ihn verstört an. »Eher hellrot oder eher dunkel?« Vielleicht konnte sie wenigstens das beantworten.
»Ziemlich hell.«
Aber das war’s auch schon. Morse sah, daß es keinen Zweck hatte, weiter in sie zu dringen, und fragte sie nach anderen Einzelheiten: Größe, Haarfarbe, Frisur, Schuhe, Handtasche … zwanzig Minuten lang. Sie gab sich alle Mühe, aber je mehr er fragte, um so diffuser wurde die Erinnerung.
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