. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
Mahagonischreibtisch, das Phillipson mit seiner Frau zeigte. Dann sah er auf seine Uhr.
»Wann kommen Ihre Kinder nach Hause?« Sein Ton war plötzlich leise und freundlich. Sie spürte, wie die Angst ihr beinahe den Atem nahm, und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Um vier Uhr.«
»Dann haben wir also eine Stunde Zeit. Das müßte reichen. Mein Wagen steht draußen. Sie ziehen sich besser etwas über – Ihren roten Mantel, wenn Sie wollen.«
Er stand auf und knöpfte sich sein Jackett zu. »Ich werde dafür sorgen, daß Ihr Mann Bescheid bekommt, falls …« Er machte ein paar Schritte auf die Tür zu, doch als er an ihrem Sessel vorbeikam, berührte sie ihn leicht mit der Hand.
»Setzen Sie sich bitte wieder, Inspector.«
Ja, es stimme, sie sei dort gewesen. Aber das sei eigentlich auch schon alles. Ein ganz spontaner Entschluß – so wie man sich plötzlich hinsetzt, um einen lange fälligen Brief zu schreiben, endlich beim Zahnarzt anruft oder das Lösungsmittel kauft für die lackverkrusteten Pinsel, die schon seit letztem Jahr herumstehen.
Sie hatte Mrs. Cooper von nebenan gebeten, ob sie eine Weile nach den Kindern sehen könne – nicht lange, sie sei höchstens eine Stunde weg – und hatte den Bus um 9 Uhr 20 genommen. Die Haltestelle war ja direkt vor der Haustür. In der Cornmarket Street stieg sie aus und ging durch Gloucester Green zur Kempis Street. Als sie vor Baines’ Haustür stand, mußte es so Viertel vor zehn gewesen sein. Im vorderen Zimmer brannte hinter zugezogenen Vorhängen Licht. Am liebsten wäre sie umgekehrt, aber dann nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte. Drinnen rührte sich nichts. Sie klopfte erneut. Wieder ohne Erfolg. Daraufhin trat sie an das erleuchtete Fenster und pochte gegen die Scheibe. Alles blieb ruhig. Sie ging zurück zur Haustür. Es war ihr peinlich, hier herumzustehen. Sie war drauf und dran, unverrichteter Dinge wieder zu gehen, aber nun hatte sie sich schon einmal entschlossen und war hierher gefahren … Sie faßte an die Klinke und fand die Tür zu ihrer Überraschung unverschlossen. Sie öffnete sie einen Spalt und rief seinen Namen.
»Mr. Baines?« Dann noch einmal – lauter. »Mr. Baines, sind Sie da?« Aber niemand antwortete. Die völlige Stille im Haus wirkte beklemmend. Sie spürte, wie eine Gänsehaut sie überlief, und ein paar Sekunden lang hatte sie das Gefühl – nein, sie war absolut sicher –, daß er sich irgendwo dort hinter der Haustür verborgen hielt, ganz in ihrer Nähe, sie beobachtete und wartete … Plötzlich drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte in Panik davon. Die hell erleuchtete große Querstraße erschien ihr wie eine sichere Zuflucht. Das Herz klopfte ihr immer noch bis zum Hals, und sie versuchte, ruhiger zu atmen. In der St. Giles Street fand sie ein Taxi. Kurz nach zehn war sie wieder zurück.
Sie hatte es schnell und ohne zu stocken heruntererzählt, mit tonloser Stimme, die Augen niedergeschlagen. Morse fand ihre Geschichte soweit plausibel – keine Widersprüche oder Ungereimtheiten, die darauf hindeuteten, daß sie etwas zu verbergen hatte. Vieles ließ sich auch leicht nachprüfen. Die Nachbarin, der Busschaffner, der Taxifahrer – alle konnten befragt werden. Morse war ziemlich sicher, daß sie bestätigen würden, was Mrs. Phillipson eben gesagt hatte, und daß auch ihre Zeitangaben in etwa korrekt waren. Nur, was den wesentlichsten Teil ihrer Aussage anging – daß Baines auf ihr Klopfen nicht geöffnet und sie deshalb das Haus gar nicht betreten habe … Da gab es niemanden, der das hätte bezeugen können. Wenn sie nun doch hineingegangen war? Was für ein Drama hatte sich dann drinnen abgespielt? Morse wußte nicht, ob er ihre Version nun glauben sollte oder nicht. Wenn er das Für und Wider gegeneinander abwog, schien es sich fast die Waage zu halten, aber nur fast. Ein ganz klein wenig neigte sich die Schale zugunsten von Mrs. Phillipson.
»Warum sind Sie zu ihm gegangen?«
»Ich wollte mit ihm reden. Mehr nicht.«
»Das müssen Sie mir schon näher erklären.«
»Das ist schwierig. Ich glaube, ich wußte selbst nicht so genau, was ich eigentlich sagen wollte. Er war – er war einfach ein schlechter Mensch. Kleinlich, rachsüchtig, berechnend – immer irgendwie auf der Lauer. Man merkte, daß er mit Genuß zusah, wenn andere in Schwierigkeiten waren. Ich denke jetzt nicht an irgendein bestimmtes Ereignis, ich habe ihn auch gar nicht gut gekannt. Ich weiß nur, daß er vom ersten Tag
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