. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
Schließlich konnte sie nur noch hilflos die Achseln zucken. Wenn er bloß endlich aufhören würde mit seinem Trommelfeuer von Fragen! Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Sie hatte das Gefühl, sie müsse jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
Dann auf einmal änderte sich sein Ton.
»Sie haben doch sicher eine Katze, Mrs. Thomas?« fragte er. Wieso er das wußte, war ihm selbst nicht ganz klar, aber seine Frage hatte das gewünschte Ergebnis. Sie sah ihn zum erstenmal richtig an, setzte sich bequem hin und lieferte ihm eine anschauliche Beschreibung ihrer weißen, blauäugigen Katze.
Morse fand, es könne nicht schaden, sich ihr gegenüber als Katzenkenner, der er war, vorzustellen. »Eines der charakteristischsten körperlichen Merkmale der Katzen ist uns ja inzwischen derartig vertraut, daß wir kaum noch darüber nachdenken. Ich meine die Besonderheit, daß das Gesicht einer Katze zwischen den Augen flach ist, was bedeutet, daß sie mit beiden Augen zusammen sieht. Man nennt das stereoskopisches Sehen. Das findet man unter Tieren nur selten. Die meisten …« Mrs. Thomas lauschte hingerissen, dann, als er gerade dabei war, die Schädelstruktur von Hunden zu erläutern, unterbrach sie ihn auf einmal und lächelte ihn strahlend an. Plötzlich war ihr wieder alles völlig präsent: Kirschrot – möglicherweise Grätenmuster, mittelgroß, hellbraunes Haar, Dauerwelle, schwarze Schuhe mit flachen Absätzen, keine Handtasche. So gegen zehn vor zehn. Sie wußte die Zeit deshalb so genau, weil sie …
Kurz darauf durfte sie gehen. Sie war glücklich und erleichtert. Ein netter junger Polizist fuhr sie nach Hause. Als sie ihr gemütliches Wohnzimmer betrat, streckte ihre weiße Katze, die faul auf dem Sofa lag, träge alle Viere und öffnete kurz eines ihrer geheimnisvollen stereoskopischen Augen, womit sie zu erkennen gab, daß sie die Rückkehr ihrer Herrin zur Kenntnis genommen hatte.
Kirschrot. Morse stand auf und schlug im Begriffswörterbuch nach. Kirschro t – rot wie Kirschen, leuchtend rot, leicht purpurrot. Ja, der Farbton stimmte genau. Während der nächsten fünf Minuten starrte er in der Haltung des De n kers von Rodin abwesend durch das Fenster in den Himmel, hob dann die Augenbrauen und nickte ein paarmal mit dem Kopf. Also an die Arbeit! Er kannte den von Mrs. Thomas beschriebenen Mantel und hatte sich sofort daran erinnert, obwohl er ihn nur einmal gesehen hatte – er war von hellem Rot, wie die Farbe frischer Kirschen.
Kapitel Vierundzwanzig
› Ist da jemand? ‹ rief der Reisende und klopfte an die mon d beschienene Tür .
Walter de la Mare, Die Lauschenden
Bei den Phillipsons waren die Geldangelegenheiten klar geregelt. Mrs. Phillipson hatte ein eigenes kleines Einkommen aus den Zinsen vom Vermögen ihrer verstorbenen Mutter; hierfür unterhielt sie ein separates Konto. Ihr Mann hatte zwar die Summe der ursprünglichen Erbschaft gekannt, wußte aber über die Höhe ihrer jährlichen Einkünfte daraus ebensowenig Bescheid wie sie über seine Extraeinnahmen. Denn er hatte ebenfalls ein eigenes Konto, auf dem im Lauf eines Jahres nicht unbedeutende Beträge zusammenkamen. Es waren Vergütungen für seine Nebentätigkeit als Prüfer einer staatlichen Prüfungsbehörde, Tantiemen für ein mäßig erfolgreiches Geschichtsbuch über Großbritannien im 19. Jahrhundert, das er vor fünf Jahren geschrieben hatte, und verschiedene kleinere Einnahmen, die mit seinem Amt als Schulleiter in Verbindung standen. Sein monatliches Gehalt ging auf ein gemeinsames Konto, zu dem beide Zugang hatten. Hiervon wurden die Ausgaben für den Haushalt bestritten. Das System hatte sich ausgezeichnet bewährt, und da die Familie einigermaßen wohlhabend war, hatte Streit um Finanzielles in dieser Ehe nie eine Rolle gespielt. Das Thema war für keinen der Partner je Anlaß auch nur zur geringsten Sorge gewesen. Jedenfalls bislang.
Phillipson bewahrte alles, was mit seinen Geldangelegenheiten zusammenhing, wie Scheckhefte, Kontoauszüge und Bankkorrespondenz, in der oberen Schublade seines Sekretärs auf, die er verschlossen hielt. Unter normalen Umständen hätte Mrs. Phillipson nicht im Traum daran gedacht, sie zu öffnen, genausowenig, wie es ihr eingefallen wäre, die an ihn als persönlich und vertraulich adressierten Briefe zu lesen, die jede Woche von der Examensbehörde kamen. Diese Dinge gingen sie nichts an, und es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, das zu akzeptieren. Aber
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