Wurzeln
einmal die Bewegung jedes einzelnen Sklavenschiffes auf jeder seiner Fahrten aussondern und zusammenstellen mußte. Ich studierte Karton für Karton, Aktenordner für Aktenordner die alten Papiere, in denen die Reisen von Tausenden von Sklavenschiffen von England nach Afrika, dann nach Amerika und wieder zurück verzeichnet waren.
Eine wahrhaft enervierende Arbeit! Meine Frustration wuchs in dem Maße, wie ich feststellen mußte, welche Bedeutung für die meisten Beteiligten zu jener Zeit der Sklavenhandel hatte: nämlich eine Art riesiger Industrie, so wie der Ankauf, Verkauf und Transport von Vieh heutzutage. Viele dieser Berichte schienen seit der Zeit ihrer Ablage nie wieder geöffnet worden zu sein. Anscheinend hatte niemand mehr das Bedürfnis empfunden, sie durchzugehen.
Ich hatte noch nicht ein einziges Schiff gefunden, das von Gambia nach Annapolis gefahren war, als ich in der siebten Woche, an einem Nachmittag etwa um halb drei, das genau 1023. Aktenblatt dieser Listen von Sklavenschiffen in die Hände bekam. Es war ein großes, rechteckiges Blatt, das von etwa dreißig Schiffen die ein- und ausgehenden Bewegungen im Gambia-Fluß in der Zeit von 1766 und 1767 enthielt. Ich ging die Liste durch, bis meine Augen Schiff Nr. 18 erreichten. Fast mechanisch prüfte ich die verschiedenen Daten der Eintragungen.
Am 5. Juli 1767 – das war das Jahr, »da die Soldaten des Königs kamen« – hatte ein Schiff namens »Lord Ligonier« mit dem Kapitän Thomas E. Davies den Gambia-Fluß verlassen – Bestimmungshafen Annapolis … Ich weiß nicht, warum – aber seltsamerweise stellte sich diesmal meine gefühlsmäßige Reaktion auf das Gelesene erst mit gehöriger Verzögerung ein.
Ich erinnere mich, daß ich die Information fast gleichgültig niederschrieb, zu meinen Aufzeichnungen legte und nach draußen ging. Um die Ecke befand sich eine kleine Teestube. Ich betrat sie und bestellte dort Tee und Kuchen.
Dann, als ich so dasaß und an meinem Tee nippte, überfiel es mich schlagartig, daß möglicherweise genau dieses Schiff Kunta Kinte nach Amerika gebracht haben könnte.
Ich schulde der Dame aus der Teestube noch immer das Geld für den Tee und den Kuchen. Ich telefonierte sofort mit dem Büro von Pan American und buchte den letzten Platz dieses Tages nach New York. Es blieb nicht einmal genügend Zeit, zu meinem Hotel zu fahren. Ich rief dem Taxichauffeur zu: »Nach Heathrow, zum Flughafen!«
Während des Nachtfluges über den Atlantik fand ich keinen Schlaf. Immer wieder sah ich jenes Buch in der Bibliothek des Kongresses in Washington D.C. vor mir, das ich unbedingt ein zweites Mal zur Hand nehmen mußte. Es hatte einen hellbraunen Einband, mit etwas dunkleren braunen Buchstaben – »Schiffsbewegungen im Hafen von Annapolis«, von Vaughan W. Brown.
Von New York flog ich mit einer Maschine der Eastern-Air-Lines nach Washington. Ich raste mit dem Taxi zur Bibliothek des Kongresses, bestellte das Buch, riß es dem jungen Mann, der es mir brachte, förmlich aus der Hand und begann es zu durchfliegen – und da stand es schwarz auf weiß, die Bestätigung!
Die »Lord Ligonier« war von den Zollbeamten in Annapolis am 29. September 1767 abgefertigt worden.
Ich mietete mir einen Wagen, eilte nach Annapolis, ging in das Maryland-Archiv und bat die Archivarin Mrs. Phebe Jacobsen um Kopien der örtlichen Zeitungen, die um die erste Oktoberwoche 1767 erschienen waren. Alsbald brachte sie eine Mikrofilmrolle der Maryland Gazette herbei. Im Wiedergabegerät hatte ich fast die Hälfte der Ausgabe vom 1. Oktober abgespult, als ich plötzlich eine Anzeige in altertümlichen Lettern vor mir sah: »SOEBEN EINGETROFFEN mit dem Schiff Lord Ligonier, Capt. Davies, vom Gambia-Fluß, Afrika, steht für die Abonnenten in Annapolis gegen Bezahlung oder anerkannte Sichtwechsel am Mittwoch, den 7. Oktober, zum Verkauf eine Ladung AUSGEWÄHLTER GESUNDER SKLAVEN.
Besagtes Schiff wird als Rückfracht nach London Tabak zum Vorzugspreis von 6 Shilling die Tonne mitnehmen.«
Unterzeichnet war die Anzeige von John Ridout und Daniel von St. Thos. Jenifer.
Am 29. September 1967 hatte ich das Gefühl, an keinem anderen Ort der Welt sein zu dürfen als am Pier von Annapolis – und so stand ich da, auf den Tag genau zweihundert Jahre nachdem die »Lord Ligonier« dort gelandet war. Und als ich über das Meer schaute, über das man meinen Ur-ur-ur-urgroßvater einst hergeschafft hatte, fand ich mich abermals in Tränen.
Das 1766/67 im
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