Wurzeln
drehenden Kreis aus – eine von etwa einem Dutzend, die ihre Kleinkinder auf den Rücken gebunden trugen –, kam auffordernd auf mich zu, immer mit den nackten Füßen den Boden stampfend, holte ihr Kind aus dem Umschlag und warf es mir mit einer Geste zu, die nur bedeuten konnte: »Nimm es!« – und so tat ich und hielt das Baby. Dann nahm die Frau das Kind schnell wieder fort, und eine andere Frau tat das gleiche, was sie getan hatte, gab mir ihr Kind, nahm es zurück, und so eine nach der anderen … bis ich wahrscheinlich alle Babys umarmt hatte.
Der Sinn dieser feierlichen Handlung ging mir erst über ein Jahr später auf, als ein Professor von der Harvard-Universität, Dr. Jerome Bruner, ein Sachverständiger in diesen Dingen, mir erklärte: »Sie haben gar nicht gemerkt, daß Sie da an einer der ältesten Zeremonien der Menschheit teilgenommen haben – dem Handauflegen. Auf ihre Weise wollten sie Ihnen ausdrücken: Durch dieses Fleisch, das von uns stammt, sind wir du, und du bist wir.«
Später nahmen mich die Männer von Juffure mit in ihre aus Bambus und Stroh erbaute Moschee, und sie beteten auf arabisch. Ich erinnere mich, woran ich gedacht habe, als ich da mit ihnen zusammen niederkniete: Nun weiß ich zwar, woher ich stamme – kann aber kein einziges Wort von dem verstehen, was sie sprechen. Später wurde mir der Kern ihres Gebetes übersetzt: »Lob sei Allah, denn einen lange Verlorenen aus unserer Mitte hat er zurückgeführt.«
Da wir auf dem Fluß hergekommen waren, wollte ich zu Lande zurückkehren. Als ich dann neben dem muskulösen jungen Mandingo-Fahrer saß, der wahre Wolken von Staub auf der heißen, mit Schlaglöchern übersäten Provinzstraße nach Banjul hinter uns aufwirbeln ließ, kam mir plötzlich zu Bewußtsein: Wenn jeder schwarze Amerikaner so glücklich wäre wie ich, nur ein paar geringe Hinweise zu besitzen – genauer gesagt: den Namen des afrikanischen Vorfahren, väterlicher- oder mütterlicherseits, den ungefähren Heimatort oder den seiner Gefangennahme und schließlich einen Hinweis auf den möglichen Zeitpunkt dieses Ereignisses –, dann könnte er mit Hilfe eines weisen alten griot , so wie ich, Familiengeschichte und lokale Zusammenhänge von einst mit der Gegenwart verbinden. Vor meinem inneren Augen begannen sich die Beschreibungen, die ich über die kollektive Verschleppung all der Millionen unserer Vorfahren in die Sklaverei gelesen hatte, visionenhaft zu beleben – wie eine verschwommene Projektion auf der Leinwand. Viele tausend waren einzeln entführt worden, so wie mein Ahne Kunta. Aber Millionen mochten in der Nacht in überfallenen Dörfern, die oft in Flammen aufgingen, aufgeschreckt worden sein. Die überlebenden und für Sklavendienste tauglichen und brauchbaren Gefangenen wurden am Hals mit Riemen aneinander gefesselt und zu Reihen mitunter bis zu einer Meile Länge zusammengeschlossen. Diese traurige Prozession nannte man den »Sklavenreigen«.
Ich sah sie vor mir, wie sie scharenweise starben oder einfach liegengelassen wurden, wenn sie zu schwach waren, den mörderischen Marsch bis zur Küste hin zu überstehen. Und diejenigen, die es bis zum Strand geschafft hatten, rieb man mit Fett ein, schor sie kahl, untersuchte jede ihrer Körperöffnungen, und oftmals brandmarkte man sie mit glühendem Eisen wie Vieh. Ich stellte mir vor, wie sie zu den Schiffen gepeitscht und geschleift wurden, wie sie verzweifelt schrien und ihre Hände in den Boden krallten, um mit einem Mundvoll Sand eine letzte Erinnerung an dieses Afrika, das ihre Heimat war, aufzunehmen. Ich ahnte, wie sie gestoßen, geschlagen und in die stinkenden Frachträume dieser Sklavenschiffe gezerrt wurden, wo sie, an die Planken gekettet, dicht nebeneinander gepackt auf der Seite liegen mußten.
All das wirbelte durch meinen Kopf, als wir uns einer anderen, wesentlich größeren Ortschaft näherten. Die Nachricht von dem, was in Juffure geschehen war, mußte schneller vorangekommen sein als wir selbst. Der Fahrer mußte das Tempo verlangsamen, da die Einwohner dieses Dorfes sich vor uns auf dem Weg drängten. Sie winkten und riefen durcheinander; ich erhob mich von meinem Sitz im Wagen und winkte zurück, während sie dem Landrover nur ungern eine schmale Gasse zu öffnen schienen.
Wir mochten wohl ein Drittel des Weges durch den Ort zurückgelegt haben, als ich auf einmal begriff, was sie da allesamt riefen – die alten, verhutzelten Männer genauso wie die jungen, die Mütter wie
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