Wurzeln
James-Fort im Gambia-Fluß zusammengestellte Dokument hatte auch erwähnt, daß im Laderaum der »Lord Ligonier« einhundertvierzig Sklaven befördert worden waren. Wie viele mochten die Schiffsreise überstanden haben?
Bei einem zweiten Besuch im Maryland-Archiv versuchte ich, eine Urkunde über die Ladung des Schiffes bei seiner Ankunft in Annapolis zu finden – und ich entdeckte, niedergeschrieben in altmodischer Handschrift, folgende Inventarliste:
»3265 Elefantenzähne, 3700 Pfund Bienenwachs, 800 Pfund Rohbaumwolle, 32 Unzen Gold aus Gambia – und 98 Neger.« Die Verlustquote von zweiundvierzig Afrikanern auf der Reise, also gut einem Drittel, war Durchschnitt bei diesen Sklaventransporten.
Im Laufe der Zeit wurde es mir bewußt, daß Großmutter, Tante Liz, Tante Plus und Cousine Georgia auf ihre Weise gleichfalls griots gewesen waren. Meine Notizbücher enthielten ihren jahrhundertealten Bericht von unserem Afrikaner, der an »Masser John Waller« verkauft und mit dem Namen »Toby« belegt worden war. Bei seinem vierten Fluchtversuch hatte er, in die Enge getrieben, einen von den beiden berufsmäßigen Sklavenhäschern, die ihn schließlich gefangennahmen, mit einem Stein verletzt. Dafür hatten sie ihm den halben Fuß abgehackt. »Masser Johns Bruder, Dr. William Waller,« hatte das Leben des Sklaven gerettet und ihn dann, empört über die Verstümmelung, seinem Bruder abgekauft. Ich wagte zu hoffen, daß auch darüber irgendeine Urkunde existieren mochte. So reiste ich nach Richmond, Virginia. Ich arbeitete mich durch einen Wust von alten amtlichen Niederschriften aus Spotsylvania County, Virginia, nach der Landung der »Lord Ligonier« im September 1767. Nach einiger Zeit fand ich eine ausführliche, vom 5. September 1768 datierte Urkunde, wonach John Waller und seine Frau Ann Ländereien und Güter, einschließlich 240 Morgen Ackerland, auf William Waller übertragen hatten – – – und dann auf der zweiten Seite: »sowie einen männlichen Negersklaven mit Namen Toby«.
Mein Gott!
In den zwölf Jahren seit meiner Begegnung mit dem Stein von Rosette bin ich, nach meiner Schätzung, fast eine halbe Million Meilen gereist. Ich habe nachgeforscht, Material gesichtet, überprüft, die Gegenprobe gemacht und dabei nach und nach herausgefunden, daß die mündlich überlieferten Berichte der verschiedenen Personen sich nicht nur als hieb- und stichfest erwiesen, sondern auch den Zusammenhang zwischen beiden Seiten des Ozeans richtig herstellten. Schließlich mußte ich mir weitere Nachforschungen ernstlich versagen, um endlich mit der Niederschrift dieses Buches beginnen zu können.
Um die Kindheit und Jugend Kunta Kintes zu erkunden, brauchte ich eine lange Zeit. Nachdem ich mit ihm vertraut geworden war, litt ich leibhaftig unter seiner Gefangennahme. Als ich dann mit dem Versuch beginnen wollte, seine eigene beziehungsweise die Überfahrten all dieser von Gambia kommenden Sklavenschiffe zu beschreiben, flog ich nach Afrika. Ich verhandelte mit den verschiedensten Schiffahrtslinien, um eine Passage auf dem erstbesten Frachter zu bekommen, der von irgendeinem schwarzafrikanischen Hafen direkt in die Vereinigten Staaten fuhr. Es ergab sich, daß das die der Farrell-Linie angehörende »African Star« war.
Als wir in See stachen, erklärte ich, was mir, wie ich hoffte, würde helfen können, die Überfahrt meines Vorfahren nachzuvollziehen. Nach jedem Nachtessen kletterte ich über nicht enden wollende Eisenleitern in die Tiefe des dunklen, kalten Laderaums. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus, legte mich auf die rohen Planken und zwang mich, dort alle zehn Nächte der Überfahrt zu verbringen. Dabei versuchte ich mir vorzustellen, was er gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt oder gerochen haben mochte – und darüber hinaus, was er gedacht haben könnte. Meine Überfahrt war natürlich auf geradezu lächerliche Weise komfortabel, verglichen mit der gräßlichen Prüfung, der Kunta Kinte, seine Gefährten und all die anderen Tausende ausgesetzt waren.
Sie mußten angekettet in ihrem eigenen Dreck daliegen, geschüttelt von Angst und Entsetzen, und das für fast achtzig bis neunzig Tage, an deren Ende neue seelische und körperliche Schrecken auf sie warteten. Aber irgendwie brachte ich die Geschichte dieser Überfahrt zu Papier – aus der Perspektive der menschlichen Fracht.
Schließlich habe ich alle unsere sieben Generationen in dieses Buch mit hineinverwoben, das nun in Ihrer Hand
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