Wut im Quadrat - Mannheim-Krimi
in die Gegenwart zurück.
»Sehr geehrte Fahrgäste. Wegen einer Streckenfunktionsstörung wird dieser Zug über Heidelberg umgeleitet. Daraus ergibt sich eine Verzögerung von zehn Minuten. Wir bitten um Ihr Verständnis.«
Olivia seufzte leise. Hoffentlich blieb es bei zehn Minuten, das könnte sie gerade noch hinnehmen. Schon wenige Minuten später fuhr der ICE mit gedrosselter Geschwindigkeit weiter und erreichte den Mannheimer Rangierbahnhof, der wie eine Einflugschneise vor der Stadt lag und einer der leistungsstärksten Bahnhöfe Europas war. Er gehörte im Grunde nicht zu Mannheims Hauptbahnhof, wie das andernorts zum Teil üblich war, sondern bildete ein eigenständiges Areal der Bahn, das hauptsächlich dem Güterverkehr diente.
Wahrscheinlich hätte mein kleiner Neffe hier viel Spaà mit all den Waggons und Lokomotiven. Das muss ein Traum für Jungen sein
.
Olivia versuchte sich den Rangierbahnhof in seiner ganzen GröÃe vorzustellen. Rings um ihn befand sich kaum ein Stück Zivilisation. Mannheims Häuser lagen weit entfernt. Der Rangierbahnhof war umgeben von Wiesen und Feldern der flachen Rheinebene, in deren Herzen Mannheim lag. Ãberall waren Weichen, sodass sich an allen Orten des Rangierbahnhofs neue Gleise von den alten abspalteten. Sie musste unweigerlich an einen vielköpfigen Drachen denken, aus dessen abgeschlagenen Köpfen zwei neue wuchsen.
Jetzt fuhren sie besonders langsam. Olivia wollte schon fluchen, weil der Zug kurz vor dem Erreichen des Ziels zum Erliegen zu kommen schien. Wenn das der Fall war, würde sie sehr spät ins Bett kommen. Morgen wollte sie aber fit und wach sein, um bei ihren neuen Kollegen und ihrem neuen Chef einen guten Eindruck zu hinterlassen. Der erste Eindruck zählte bekanntlich gewaltig, sie wusste nur zu gut, dass man schnell in eine Schublade gesteckt werden konnte.
Der Neumond kam hinter ein paar Wolken hervor und schickte sein mattes Licht auf den Rangierbahnhof nieder. Was er nicht leisten konnte, schafften hunderte von Laternen: Sie strahlten mit voller Kraft und verliehen dem Rangierbahnhof etwas Märchenhaftes und Verträumtes. Das Licht ermöglichte Olivia, sich die Wagen und Lokomotiven, an denen der ICE vorbeirollte, genauer anzusehen.
Sie rollten gerade an einem Waggon der langen, roten S-Bahnen des Verkehrsverbundes Rhein-Neckar vorbei, als Olivia ein paar hektische Bewegungen darin zu bemerken glaubte. Sie kniff ihre Augen zusammen und starrte genauer hin. Hatte sie sich das nur eingebildet?
Ihr Zug rollte langsam weiter. Gleich würde die verdächtige Stelle verschwinden. Sie schaute noch einmal angestrengt in die Richtung, in der sie die Bewegungen vermutete. Es war nichts zu erkennen. Alles war ruhig. Plötzlich schnellten hinter einem der S-Bahn-Sitze zwei Menschen vom Boden hoch. Olivia zuckte zusammen. Der vordere Mann schien für den Bruchteil einer Sekunde Olivia aus der Ferne tief in die Augen zu sehen. Der hintere lieà seinen Blick nicht von seinem Opfer. Er hatte diesem beide Hände um den Hals gelegt und drückte mit aller Gewalt zu. Dann verschwanden die beiden. Olivia drückte sich ans Fenster, um die S-Bahn nicht aus den Augen zu verlieren.
Sie bekam Angst. Hatte sie gerade beobachtet, wie ein Mensch einen anderen umbrachte? Das konnte nicht sein. Sie drückte sich noch stärker ans Fenster.
Mist! Es ist nichts mehr zu sehen
.
Ihre nächste Reaktion war es, ihren Sitznachbarn anzusprechen, der nun aber seinerseits offenbar keinen Kontakt mehr mit Olivia wünschte.
»Haben Sie das auch gesehen?«
Mit typischer Berliner Schnauze bekam sie zu hören, was sie in den letzten Jahren immer wieder gehört hatte: »Ick hab nischt jesehen.«
Langweiliger Idiot! Wenn dort wirklich ein Kampf vor sich geht, muss ich einschreiten und Schlimmeres verhindern!
Sie war hellwach. Zu einem Mord durfte es nicht kommen. Nicht, wenn sie es verhindern konnte.
Olivia musste so schnell wie möglich aus dem Zug und zur S-Bahn gelangen. Schnell schnappte sie sich ihre Lederjacke und ihren Rucksack.
»Lassen Sie mich bitte durch«, bat sie ihren lakonischen Sitznachbarn.
Als dieser sich nicht regte, blickte sie den Berliner auffordernd an. Der bewegte sich nur ein wenig. Olivia dauerte es zu lang.
Mach mir Platz, los! Ich muss ein Unglück verhindern, während du hier dein Phlegma auslebst!
Sie sprang über ihren Sitznachbarn
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