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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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geschafft, auch nur die einfachsten römischen Zahlen zu lernen, ganz zu schweigen von Flaggensignalen oder dem inzwischen untergegangenen Morsealphabet, das heißt, bis auf das, was alle davon wußten. Di di dit da da da di di dit. SOS. Alle stellten Spekulationen über die Wunder an, die auf den Genom-Triumph folgen würden, zum Beispiel die zusätzlichen Glieder, die wir uns wachsen lassen könnten, um das Problem zu lösen, wie man beim Kalten Buffet einen Teller und ein Weinglas halten und zugleich essen konnte; aber für Malik waren die einzigen Gewißheiten erstens, daß alle Entdeckungen, die möglicherweise gemacht wurden, zu spät kommen würden, um für ihn von Nutzen zu sein, und zweitens, daß dieses Buch - das alles änderte, das das philosophische Wesen unseres Seins verwandelte, das einen so immensen quantitativen Wandel in unserem Selbst-Wissen beinhaltete, daß es zugleich ein qualitativer Wandel war - ein Buch war, das er niemals zu lesen fähig sein würde. Während menschliche Wesen von diesem hohen Grad des Verstehens ausgeschlossen waren, konnten sie sich damit trösten, daß sie alle zusammen im selben Morast der Ignoranz saßen. Nun, da Solanka wußte, daß irgend jemand irgendwo wußte, was er nie wissen würde, und ihm außerdem durchaus klar war, daß es lebenswichtig war, das zu wissen, was bekannt war, empfand er den unbestimmten Ärger, den langsam aufsteigenden Zorn des Ignoranten. Er kam sich vor wie eine Drohne oder eine Arbeitsameise. Er kam sich vor wie einer der vielen kleinen Leute in den alten Filmen von Chaplin und Fritz Lang, wie einer der Gesichtslosen, die dazu verurteilt waren, ein Rädchen im gesellschaftlichen Getriebe zu sein und sich abzuschuften, während von hoch oben das Wissen Macht über sie ausübte. Das neue Zeitalter hatte neue Kaiser, und er würde ihr Sklave sein.
    »Sir? Sirl« Eine junge Frau stand vor ihm, unangenehm dicht vor ihm, in einem bleistiftschmalen, knielangen marineblauen Rock und einer schicken weißen Bluse. Das blonde Haar hatte sie sich straff zurückfrisiert. »Ich muß Sie bitten, zu gehen, Sir.« Das hispanische Thekenpersonal wartete gespannt, einsatzbereit. Professor Solanka war aufrichtig verblüfft: »Was scheint denn hier das Problem zu sein, Miss?«
    »Was ist das Problem, Sir, nicht scheint . Sie haben anstößige Ausdrücke benutzt, obszöne Ausdrücke, und zwar laut. Das Unaussprechliche ausgesprochen, möchte ich sagen. Laut herausgerufen haben Sie es. Und nun fragen Sie erstaunlicherweise, was das Problem ist. Sie sind das Problem, Sir. Und Sie werden jetzt bitte gehen.« Endlich, dachte er noch, als er diesen verbalen Rausschmiß erhielt, endlich ein Augenblick der Wahrheit. Hier gibt es mindestens einen Österreicher. Er erhob sich, zog sein zerknittertes Jackett um sich und ging hinaus, wobei er den Hut zog, aber nicht vor ihr. Es gab keine Erklärung für die seltsame Ansprache der jungen Frau. Als er noch mit Eleanor schlief, warf sie ihm vor, er schnarche. Er befand sich halbwegs zwischen Wachsein und Schlaf, und sie versetzte ihm einen Rippenstoß und sagte: Dreh dich auf die Seite. Aber ich bin bei Bewußtsein, wollte er sagen, er konnte sie sprechen hören, und wenn er ein derartiges Geräusch von sich gegeben hatte, hätte er es daher auch hören müssen. Nach einer Weile gab sie es auf, ihn zu belästigen, und er schlief wieder ein. Bis er einmal nicht wieder einschlief. Nein, nicht wieder das, jetzt nicht. Jetzt, da er wieder mal bei vollem Bewußtsein war und alle möglichen Geräusche in den Ohren hatte.
    Als er zu seiner Wohnung kam, sah er einen Arbeiter draußen auf einem Hängegerüst vor seinem Fenster, der Reparaturarbeiten an der Außenseite des Gebäudes ausführte, und seinem Kollegen, der unten auf dem Bürgersteig saß und eine beedi rauchte, in lautem, rollenden Punjabi Anweisungen und schmutzige Witze zurief. Sofort rief Malik Solanka seine Vermieter an, die Jays, wohlhabende Biobauern, die den Sommer im Norden des Staates bei ihrem Obst und ihrem Gemüse verbrachten, und ließ eine saftige Beschwerde los. Dieser unzivilisierte Lärm sei unerträglich. Im Mietvertrag heiße es deutlich, daß die Arbeiten nicht nur außerhalb des Hauses, sondern auch geräuschlos vonstatten gehen würden. Darüber hinaus funktioniere die Toilette nicht richtig; kleine Stückchen von Exkrementen kämen wieder hoch, nachdem er gespült habe. In der Stimmung, in der er sich befand, verursachte ihm das Qualen von einer

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