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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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SUAE EDUCATIONEM CRISTIANAM ET CATHOLICAM PROCURANT. Die Worte erzeugten in Solanka keine Reaktion. Nebenan glänzte ein eher glückskeksartiger Sinnspruch in goldenen Lettern auf einem mächtigen DeMille-assyrischen Portal. WENN BRUDERLIEBE ALLE MENSCHEN VERBÄNDE, WIE SCHÖN WÜRDE DIE WELT SEIN. Vor einem Dreivierteljahrhundert war dieses Bauwerk, knallig schön in der grellsten Manier dieser Stadt, dem Pythianismus gewidmet worden, wie auf dem Eckstein zu lesen war, und das, ohne von der Kollision der griechischen und mesopotamischen Ornamente peinlich berührt zu sein. All dieses Plündern und Vermengen des Warenlagers gestriger Imperien, der ganze Schmelztiegel, die metissage vergangener Macht war der eigentliche Indikator der gegenwärtigen Stärke.
    Pytho war der alte Name von Delphi, Heimat des Python, der mit Apollo rang; und des berühmteren Orakels von Delphi, wo Pythia die prophetische Priesterin war, ein Wesen der Raserei und der Ekstase. Solanka konnte sich nicht vorstellen, daß es das war, was die Erbauer mit Pythianisch meinten: den Konvulsionen und Epilepsien gewidmet. Auch für die bescheidene - die großartig, machtvoll bescheidene - Ausübung der Poesie konnte ein so heroisch konzipiertes Haus nicht gedacht sein. (Die Pythische Verskunst wird in daktylischen Hexametern geschrieben.) Vermutlich hatte man dabei eher apollonische Bezüge im Sinn, Apollo in seiner musikalischen und seiner athletischen Inkarnation. Vom sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an wurden die Pythischen Spiele, eines aus dem großen Quartett Panhellenischer Feste, im dritten Jahr der Olympischen Zyklen abgehalten. Es gab musikalische sowohl als auch sportliche Wettbewerbe, und selbst der große Kampf des Gottes mit der Schlange wurde nachgespielt. Vielleicht waren ein paar Bruchstücke davon auch jenen bekannt, die diesen Schrein der Halbbildung erbauten, diesen dem Glauben gewidmeten Tempel, daß Ignoranz, von ausreichend vielen Dollars gestützt, zu Wissen wird. Dem Tempel des Boobus Apollo.
    Zum Teufel mit diesem klassischen Mischmasch, rief Professor Solanka in Gedanken aus. Denn er war umgeben von einer weit größeren Gottheit: Amerika, in der größten Stunde seiner hybriden, omnivoren Macht. Amerika, zu dem er gekommen war, um sich selbst auszulöschen. Um frei von Bindungen und daher auch von Zorn, Angst und Schmerz zu sein. Verschlinge mich, betete Professor Solanka lautlos. Verschlinge mich, Amerika, und schenke mir Frieden.
    Gegenüber von Pythias falschem assyrischen Palast öffnete gerade New Yorks bester Abklatsch eines Wiener Kaffeehauses seine Pforten. Hier fand man Times und Herald Tribune sauber in Holzleisten eingeklemmt. Solanka ging hinein, um starken Kaffee zu trinken und sich am ewigen Imitationsspiel dieser vergänglichsten aller Städte zu beteiligen. In seinem inzwischen zerknitterten Leinenanzug und dem Panamahut konnte man ihn für einen der heruntergekommeneren Habitues des Cafe Hawelka in der Dorotheergasse halten. In New York sah niemand allzu genau hin, und nur die Augen weniger Personen waren auf die alten europäischen Feinheiten trainiert. Der ungestärkte Kragen am schweißfleckigen Hemd von Banana Republic, die staubigen braunen Sandalen, der struppige Bart (weder sorgfältig gestutzt noch fein pomadisiert), sie wurden hier von niemandem mißbilligt. Selbst sein Name, wäre er jemals verpflichtet gewesen, ihn zu nennen, klang annähernd mitteleuropäisch. Was für ein Ort, dachte er. Eine Stadt der Halbwahrheiten und Echos, die irgendwie die Erde beherrscht. Und der Blick ihrer Augen, smaragdgrün, drang tief ins Herz hinein.
    Als er sich der Theke mit ihrer tiefgefrorenen Auswahl an meisterlichem Gebäck aus Österreich näherte, ging er an dem verlockend aussehenden Sacher- gâteau vorbei und bat um ein Stück Linzertorte, was ihm einen Blick perfekter, hispanischer Verständnislosigkeit eintrug, was ihn wiederum verpflichtete, voller Verzweiflung mit dem Finger darauf zu zeigen. Dann konnte er endlich trinken und lesen.
    Die Morgenzeitungen waren voller Artikel über den Bericht vom menschlichen Genom. Die bisher beste Version des glorreichen Buchs des Lebens nannten sie es, ein Ausdruck, der verschiedentlich benutzt wurde, um die Bibel und den Roman zu beschreiben, obwohl diese neue Glorie gar kein Buch war, sondern eine elektronische Nachricht im Internet, ein in vier Aminosäuren geschriebener Code, und Professor Solanka war nicht sehr gut in Codes, hatte es nie

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