Xeelee 1: Das Floss
Vielleicht könnte er die Motive der Leute, die hinter dieser Untat standen, ja noch verstehen – warum sollte eine kleine Gruppe die Früchte der Arbeit anderer Leute ernten? –, aber deswegen töten?
Die Sicherheitsleute mit den orangefarbenen Schulterstücken begannen unter den Zuschauern Leibesvisitationen vorzunehmen. Resigniert und schweigend lehnten sich Rees und Baert zurück und warteten, bis sie an der Reihe waren.
Ungeachtet vereinzelter Zwischenfälle wie das Attentat im Theater fand Rees sein neues Leben faszinierend und lohnend, und die Schichten gingen unglaublich schnell vorbei. Allzu schnell, so schien es ihm, waren seine ersten tausend Schichten, der erste Abschnitt seines beruflichen Werdegangs, vorübergegangen, und jetzt war es soweit, daß seine Leistungen honoriert wurden.
Und so fand er sich eines Tages in einem geschmückten Bus wieder, betrachtete die roten Streifen eines Wissenschaftlers dritter Klasse, die gerade auf die Schulter seines Arbeitsanzugs gestickt worden waren und erschauerte unter einem Gefühl der Irrealität. Der Bus bahnte sich seinen Weg durch die Vorstädte des Floßes. Seine etwa ein Dutzend jungen Insassen, die in denselben Rang befördert worden waren wie Rees, waren in eine Wolke aus Lachen und Unterhaltung gehüllt.
Jaen betrachtete ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis, wobei eine deutliche Falte über ihrer breiten Nase stand; ihre Hände ruhten im Schoß ihrer Ausgehuniform. »Hast du was auf dem Herzen?«
Er zuckte die Achseln. »Mir geht’s gut. Du kennst mich doch. Ich bin eben ein ernster Typ.«
»Verdammt richtig. Hier.« Jaen winkte dem Jungen, der Rees gegenüber saß und ergriff eine Flasche mit einem schmalen Hals. »Trink. Du bist befördert worden. Das ist deine tausendste Schicht, und du hast das Recht, sie zu feiern.«
»Also, so ganz stimmt das ja nicht. Denk dran, ich war ein Spätzünder. Für mich ist es eher wie tausend und eine…«
»Oh, du langweiliger Kerl, trink was von dem Zeug, bevor ich dich vom Bus schmeiße.«
Rees lachte, gab nach und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
In der Bar des Quartiermeisters hatte er schon einige hochprozentige Schnäpse probiert, und die meisten von ihnen waren stärker gewesen als dieser prickelnde Synthosekt; aber keiner von ihnen hatte auch nur annähernd diese Wirkung gehabt. Bald hatte er den Eindruck, daß die an den Kabeln hängenden kugelförmigen Strahler ein freundlicheres Licht verströmten als zuvor. Jaens Schwerkraftanziehung vereinigte sich mit seiner zu einer Quelle der Wärme und Ruhe; und die seichte Unterhaltung seiner Begleiter schien lebhafter und amüsanter zu werden.
Seine Stimmung hielt an, als sie unter dem Baldachin der fliegenden Bäume heraustraten und den Schatten der Plattform erreichten. Die große Metallfläche war ein vom Rand in das Floß hineinragender Vorsprung, der sich als schwarzes Rechteck gegen den roten Himmel abhob. Seine Stützpfeiler wirkten wie dünne Gliedmaßen. An einer breiten Treppe kam der Bus schnaufend zum Stehen. Rees, Jaen und die anderen stiegen tapsig aus dem Bus und kletterten die Stufen zur Plattform hoch.
Die Tausend-Schichten-Feier war schon in vollem Gange; ungefähr hundert Beförderte aus verschiedenen Klassen des Floßes tummelten sich dort. Eine aus Klapptischen aufgebaute Bar sorgte für das leibliche Wohl, eine zusammengewürfelte Band gab rhythmische Klänge von sich, und zu Füßen der Band tanzten sogar eng umschlungen einige Paare. Rees und Jaen, die sich von ihm mitziehen ließ, begaben sich auf einen Rundgang entlang der Begrenzung der Plattform.
Die Plattform war elegant konzipiert: Eine einhundert Meter lange, quadratische Platte war in einem solchen Winkel zum Rand angebracht worden, daß sie sich in der Horizontalen befand; dann hatte man sie mit einer Glaswand umgeben und so eine Aussicht ins Universum geschaffen. Am inneren Rand war das Floß selbst, das aus Rees’ Position wie ein großes, achtlos hingeworfenes Spielzeug wirkte. Wie im Theater verlieh das Gefühl, auf einer sicheren, flachen Oberfläche zu stehen, der Nähe des weiten Abhanges einen gewissen schwindelerregenden Nervenkitzel.
Die dem Weltraum zugewandte Seite der Plattform ragte über den Rand des Floßes hinaus, und in einen Teil des Bodens waren Glasplatten eingelassen. Rees stand über dem Abgrund des Nebels und hatte das Gefühl, durch die Luft zu fliegen. Er konnte Hunderte von Sternen sehen, die großräumig in
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