Xeelee 1: Das Floss
»Das ist wenigstens nicht ganz so abwegig wie einige der anderen Vorschläge, die ich bisher gehört habe. Aber wenn es so sein sollte, wie könnte man dann die Beziehung zwischen der Stärke der Schwerkraft und der Schwingungsdauer genauer beschreiben?«
»Wir können es nicht sagen«, platzte Rees heraus. »Nicht ohne weitere Angaben.«
»Das«, kommentierte Hollerbach, »ist die erste intelligente Bemerkung, die ich heute in dieser Schicht von dieser Klasse zu hören bekommen habe. Also, meine Damen und Herren, ich schlage vor, daß Sie weitere Beobachtungen anstellen. Lassen Sie mich dann wissen, was Sie herausgefunden haben.« Er stand ungelenk auf und ging weg.
Die Studenten machten sich mit unterschiedlichem Enthusiasmus an ihre Aufgabe. Rees nahm sie mit großem Engagement in Angriff und streifte während der nächsten paar Schichten über das Deck, bewaffnet mit seinem Pendel, einem Notizblock und einem Vorrat an Kerzen. Er hielt die jeweiligen Perioden des Pendels fest, machte sich genaue Notizen, erstellte logarithmische Diagramme und vieles mehr. Er registrierte genau die verschiedenen Winkel, in denen die Ebene des Pendelausschlags zur Oberfläche des Decks stand. Dabei stellte er fest, daß sich die Senkrechte je nach seinem Standort auf dem Floß änderte. Und er beobachtete die langsamen, unsteten Schwingungen des Pendels am Rand des Floßes.
Schließlich teilte er Hollerbach die Ergebnisse mit. »Ich glaube, ich hab’s«, sagte er zögernd. »Die Periode des Pendels ist proportional zur Quadratwurzel seiner Länge… und deshalb umgekehrt proportional zur Quadratwurzel der Schwerebeschleunigung.«
Hollerbach sagte nichts; er faltete nur die altersfleckigen Hände vor seinem Gesicht und sah Rees nachdenklich an.
Schließlich platzte es aus Rees heraus: »Liege ich richtig?«
Hollerbach sah ihn mit einem enttäuschten Blick an. »Du mußt noch lernen, Junge, daß es in diesem Bereich keine richtigen Antworten gibt. Du hast eine empirische Vorhersage gemacht; so weit, so gut. Nun mußt du diese Aussage anhand der Theorie überprüfen, die du gelernt hast.«
Rees murrte innerlich. Aber er ging und führte Hollerbachs Anweisung aus.
Später zeigte er Hollerbach, was er über Stärke und Vektorierung des Schwerkraftfeldes auf dem Floß herausgefunden hatte. »Die Art und Weise, in der das Feld sich ändert, ist ziemlich komplex«, berichtete er. »Zuerst habe ich gedacht, daß die Feldstärke mit dem Quadrat der Entfernung vom Schwerpunkt des Floßes abnimmt; aber das hat sich als unzutreffend erwiesen…«
»Dieses Gesetz gilt nur für in einem Punkt konzentrierte Massen oder für vollkommen kugelförmige Objekte, nicht aber für Gegenstände wie das Floß mit der Form eines Tellers.«
»Aber wie sonst…?«
Hollerbach sah ihn nur unbewegt an.
»Ich weiß«, seufzte Rees, »ich sollte gehen und an dem Problem arbeiten. Stimmt’s?«
Er brauchte dafür länger als für das Pendel-Problem. Er mußte lernen, dreidimensionale Integralrechnung anzuwenden… mit Vektoren und Äquipotential-Oberflächen umzugehen… und plausible Näherungswerte zu erstellen.
Aber er schaffte es. Und als er damit fertig war, tat sich ein neues Problem auf. Und noch eins, und noch eins…
Sein Leben bestand aber nicht nur aus Arbeit.
In einer Schicht bot Baert, zu dem Rees ansatzweise eine Freundschaft entwickelt hatte, ihm eine übriggebliebene Eintrittskarte in das sogenannte ›Theater des Lichts‹ an. »Ich will dir gar nicht erst vormachen, daß du als Begleiter für mich erste Wahl wärst«, grinste Baert. »Sie sah ein bißchen besser aus als du… Aber ich möchte nicht die Vorstellung verpassen oder eine Eintrittskarte verschwenden.«
Rees dankte ihm und wendete den Papierstreifen in den Händen. »Das Theater des Lichts? Was ist das? Was spielt sich da ab?«
»Auf dem Gürtel gibt’s nicht allzu viele Theater, was? Nun, wenn du noch nicht da warst, laß dich überraschen…«
Das Theater befand sich hinter dem vertäuten Wald, ungefähr drei Viertel des Weges zum Rand. Es gab einen Bus, der von der Mitte des Floßes aus dorthin fuhr, aber Baert und Rees entschieden sich, zu Fuß zu gehen. Als sie den mannshohen Zaun erreicht hatten, der das Theater umgab, schien das Deck ziemlich steil anzusteigen, und der Rest des Weges wurde zu einer ordentlichen Klettertour. Dort draußen auf dem offenen Deck, weit entfernt vom schützenden Dach des Waldes, war die Hitze des Sterns über dem Floß schier mit
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