Xeelee 1: Das Floss
und andere Mitarbeiter brüteten über Skizzen von Umlaufbahnen, Modellen von grandiosen Schutzhüllen, die das Floß umspannen sollten und Tabellen, die den Nahrungsmittel- und Sauerstoffverbrauch bei verschiedenen Rationierungsschemata darstellten. Die Luft war von fieberhafter, intensiver Kommunikation erfüllt. Sehnsüchtig erinnerte sich Hollerbach an die akademische Ruhe des Ortes, als er damals in die große Klasse der Wissenschaftler aufgenommen wurde. In jenen Tagen war der Himmel manchmal noch blau gewesen, und er schien alle Zeit der Welt für seine Studien zu haben…
Wenigstens, dachte er, gingen diese hektischen Bemühungen in die richtige Richtung und schienen die für die Durchführung des Plans erforderlichen Ergebnisse zu erbringen. Die Tabellen und nüchternen Kurven erzählten eine sich langsam entspinnende Geschichte von einem modifizierten Floß, das auf einer gewagten Flugbahn um den Kern wirbelte; diese nüchternen Wissenschaftler und ihre Assistenten engagierten sich gemeinsam in dem ehrgeizigsten Projekt der Menschheit seit dem Bau des Floßes selbst.
Doch jetzt war Gord mit seinen Papierfetzen und Kugelschreibernotizen hereinmarschiert… und mit seinen vernichtenden Neuigkeiten. Hollerbach zwang sich dazu, sich wieder auf Gord und Jaen zu konzentrieren, die sich noch immer in den Haaren hatten – und dann sah er in Deckers Augen. Der Kommandant des Floßes stand emotionslos vor dem Tisch; sein narbiges Gesicht von grimmiger Konzentration umwölkt.
Hollerbach seufzte unhörbar. Man konnte sich darauf verlassen, daß Decker mit seinem Instinkt für das Wesentliche immer dann aufkreuzte, wenn es kritisch wurde. »Gehen wir das bitte noch einmal durch, Ingenieur«, sagte er zu Gord. »Und du, Jaen, versuche diesmal rational zu bleiben. Ja? Mit Beleidigungen ist niemandem geholfen.«
Jaens Augen blickten düster in ihrem rot angelaufenen Gesicht.
»Wissenschaftler, ich bin – war – der Chefingenieur des Gürtels«, begann Gord. »Ich weiß mehr als das, woran ich mich jetzt erinnern kann, über das Verhalten von Metall unter Extrembedingungen. Ich habe es wie Kunststoff fließen und spröde wie altes Holz werden sehen…«
»Niemand stellt deine Referenzen in Frage, Gord«, unterbrach ihn Hollerbach. Er konnte kaum seine Gereiztheit verbergen. »Komm auf den Punkt.«
Gord tippte auf seine Papiere. »Ich habe den Gezeitensog untersucht, dem das Floß bei seiner dichtesten Annäherung ausgesetzt sein wird. Und ich habe die Geschwindigkeit ermittelt, die es nach dem ›Schleuderschuß‹ erreicht haben muß, wenn es den Nebel verlassen will. Und ich sage dir, Hollerbach, ihr habt nicht mehr Chancen als ein Schneemann in der Hölle. Ich habe alles da; du kannst es überprüfen.«
Hollerbach winkte ab. »Werden wir. Werden wir. Erzähl nur weiter.«
»Zunächst die Gezeiten. Wissenschaftler, die Belastung wird das Floß in Stücke reißen, lange bevor es den Punkt der dichtesten Annäherung erreicht hat. Und die phantasievollen Konstruktionen, die deine Wunderkinder über dem Deck errichten wollen, werden einfach wie ein Haufen Zweige weggeblasen…«
»Gord, ich akzeptiere das nicht«, platzte es aus Jaen heraus. »Wenn wir das Floß umbauen, vielleicht einige Sektionen verstärken und sicherstellen, daß wir im Perihel die richtige Höhe haben…«
Gord erwiderte ihren Blick und sagte nichts.
»Überprüfe seine Zahlen später, Jaen«, sagte Hollerbach. »Mach weiter, Ingenieur.«
»Und was ist mit dem Luftwiderstand? Bei der erforderlichen Geschwindigkeit wird dort unten in der dichtesten Atmosphäre des ganzen Nebels alles, was sich vom Perihel wegbewegt, wie ein Meteor verglühen. Ihr werdet ein spektakuläres Feuerwerk abgeben, nicht mehr. Seht, es tut mir auch leid, daß es so desillusionierend ist, aber euer Plan kann einfach nicht funktionieren. Das sagen euch die Gesetze der Physik, nicht ich…«
Decker beugte sich vor. »Bergmann«, sagte er leise, »wenn das, was du gesagt hast, stimmt, dann sind wir zu einem langsamen Tod an diesem stinkenden Ort verurteilt. Nun, vielleicht habe ich keine gute Menschenkenntnis, aber dich scheint diese Aussicht nicht übermäßig zu beunruhigen. Hättest du einen anderen Vorschlag?«
Langsam erschien ein Lächeln auf Gords Gesicht. »Ja, ganz zufällig…«
Decker legte seine schwere Hand auf den Tisch. »Keine Wortspiele mehr«, befahl er ruhig. »Bergmann, mach weiter.«
Gords Grinsen verflüchtigte sich und ein Anflug von Angst
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