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Xeelee 5: Vakuum-Diagramme

Xeelee 5: Vakuum-Diagramme

Titel: Xeelee 5: Vakuum-Diagramme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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der großen Konvektionsquellen und roch die fahlen Photonen, die aus dem entfernten Fusionskern nach draußen in den Weltraum strebten.
    Sie fühlte sich wie in einer großen Höhle. Wenn sie nach oben schaute, sah sie die Photosphäre, die etwa achtzigtausend Kilometer über ihr ein glühendes Dach bildete, und die Grenze der inneren Strahlungszone hing als ein leuchtender, undurchdringlicher Boden wiederum achtzigtausend Kilometer unter ihr.
    Lieserl? Kannst du mich hören? Ist mit dir alles in Ordnung?
    Der Capcom. Er klang wie die Stimme ihrer Mutter, dachte sie.
    Sie schwang die Arme an der Hüfte vorbei und stieg auf, wobei sie den Boden und das Dach der Höhlen-Welt um sich rotieren ließ. Sie öffnete ihre Sinne, so dass sie die Turbulenz als ein Flüstern auf der Haut vernahm und das Glühen harter Photonen aus dem Kern als sanfte Wärme auf dem Gesicht spürte.
    Lieserl? Lieserl?
    Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie immer in die Arme genommen hatte. »Die Sonne, Lieserl. Die Sonne…«
    Schon in dem Moment, als sie geboren wurde, erkannte sie, dass etwas nicht stimmte.
    Ein Gesicht hing groß über ihr: breit, mit glatter Haut, lächelnd. Die Wangen waren feucht und die glitzernden Augen groß. »Lieserl. O Lieserl…«
    Lieserl. So hatte sie mich genannt.
    Sie erkundete das Gesicht, studierte die Linien um die Augen, die humorvoll nach oben gezogenen Mundwinkel, die kräftige Nase. Es war ein intelligentes, lebenserfahrenes Gesicht. Dies ist ein gutes menschliches Wesen, überlegte sie. Gute Zucht…
    Gute Zucht? Was sind denn das für Gedanken?
    Das war unmöglich. Sie erschrak vor ihrem eigenen explosiven Bewusstsein. Sie hätte eigentlich noch nicht einmal in der Lage sein dürfen, ihre Augen zu fokussieren…
    Sie versuchte das Gesicht ihrer Mutter zu berühren. Ihre Hand war noch feucht vom Fruchtwasser – aber sie wuchs sichtlich, die Knochen verlängerten und verbreiterten sich und füllten die lose Haut wie einen Handschuh aus.
    Sie öffnete den Mund. Er war trocken, und das Zahnfleisch war bereits wund wegen der zum Vorschein kommenden Milchzähne.
    Sie versuchte zu sprechen.
    Die Augen ihrer Mutter schwammen in Tränen. »O Lieserl. Mein unmögliches Baby.«
    Starke Arme umfassten sie. Sie fühlte sich schwach, hilflos und durch den Wachstumsprozess erschöpft. Ihre Mutter hob sie hoch. Knochige, erwachsene Finger gruben sich in das schmerzende Fleisch des Rückens; ihr Kopf fiel nach hinten, denn die sich ausbildenden Muskeln waren noch zu schwach, um das zunehmende Gewicht des Kopfes zu stützen. Sie nahm weitere Erwachsene in ihrer Nähe wahr, das Bett, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, die Konturen eines Zimmers.
    Man brachte sie zu einem Fenster, wobei ihr Körper in Schräglage gehalten wurde. Ihr Kopf taumelte; Speichel benetzte das Kinn.
    Ein intensives Licht blendete ihre Augen.
    Sie schrie auf.
    Ihre Mutter legte die Arme um sie. »Die Sonne, Lieserl. Die Sonne…«

    Die ersten Tage waren am schlimmsten. Ihre Eltern – unglaublich große, dräuende Gestalten – brachten sie in hell erleuchtete Räume und einen Garten, der vom Sonnenlicht überflutet war. Sie lernte, sich aufzusetzen. Ihre Rückenmuskeln verbreiterten sich und pulsierten, während sie wuchsen. Um sie von dem endlosen Schmerz abzulenken, hampelten Clowns vor ihr über den Rasen, kicherten aus dicken roten Lippen und beendeten ihre Existenz dann in einer Pixel-Wolke.
    Sie wuchs explosionsartig, aß fortwährend und speicherte Millionen Eindrücke in ihrem zarten Sensorium.
    Dieser Ort, dieses Haus schien über eine unbegrenzte Anzahl von Zimmern zu verfügen. Langsam begann sie zu verstehen, dass einige der Räume Virtuelle Kammern waren – Bildschirme, auf die beliebig viele Bilder projiziert werden konnten. Doch auch so musste das Anwesen noch Hunderte von Zimmern umfassen. Und sie zusammen mit ihren Eltern – lebte nicht allein hier, wie sie langsam realisierte. Es gab auch noch andere Leute, die sich zunächst jedoch außer Sichtweite hielten und sich nur durch ihre Handlungen bemerkbar machten: die Mahlzeiten, die sie zubereiteten, die Spielzeuge, die sie ihr hinstellten.
    Am dritten Tag nahmen ihre Eltern sie auf einen Flug in einem Gleiter mit. Es war das erste Mal, dass sie das Haus und das Grundstück verließ. Sie starrte aus den großen Fenstern und drückte die Nase an erwärmtes Glas. Der Flug führte bogenförmig über eine Spielzeuglandschaft; ein kurvenförmiger Ausschnitt blauen

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