Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
konzertiertes »Ja«.
»Komm mit. Du bekommst jetzt eine Aufgabe«, sagte Michael. Er führte sie über den mit Kindern bedeckten Fußboden zu einer Stelle neben einem kleinen Jungen. Der Junge – rothaarig, mit stahlblauen Augen – betrachtete eine virtuelle Puppe, die sich unablässig neu gestaltete: Figur zwei zerfiel in zwei Schneeflocken, zwei Schwäne, zwei tanzende Kinder; Figur drei verwandelte sich in drei Bären, drei in der Luft schwimmende Fische und drei Kuchen. Der Junge sagte die Zahlen auf, wobei er der blechernen Stimme der Projektion folgte. »Zwei. Eins. Zwei und eins ist drei.«
Michael stellte sie dem Jungen vor. Er hieß Tommy, und sie setzte sich zu ihm. Zu Lieserls Erleichterung war Tommy so von der Darstellung fasziniert, dass er ihre Anwesenheit kaum zur Kenntnis nahm – ganz zu schweigen ihre Andersartigkeit.
Die Zahlendarstellung durchlief ihren Zyklus und erlosch dann. »Tschüs, Tommy! Tschüs, Lieserl!«
Tommy legte sich auf den Bauch und stützte das Kinn auf die Handfläche. Unbeholfen imitierte Lieserl seine Positur. Jetzt wandte Tommy ihr seine Aufmerksamkeit zu – er sah sie schweigend an, mit unbewusster Akzeptanz.
»Können wir es noch mal sehen?«, fragte Lieserl.
Er gähnte und bohrte in einem Nasenloch herum. »Nein. Lass uns etwas anderes anschauen. Es gibt da was sehr Interessantes über die Explosion im Präkambrium…«
»Das was?«
Er wedelte lässig mit einer Hand. »Den Burgess-Schiefer und das alles, weißt du. Warte einmal ab, bis du erst die Hallucigenia über deinen Nacken krabbeln spürst…«
Die Kinder spielten und lernten und machten Nickerchen. Später fing das Mädchen Ginnie, das Lieserl die Grimasse geschnitten hatte, Streit an. Sie mokierte sich darüber, wie Lieserls knochige Handgelenke aus den Ärmeln hervorschauten (Lieserls Wachstum verlangsamte sich bereits, aber sie wuchs noch immer täglich aus ihren Sachen heraus). Dann – unerwartet und erstaunlich – begann Ginnie loszubrüllen und behauptete, dass Lieserl über ihre Projektion gelaufen wäre. Als Michael herbeikam, wollte Lieserl ihm ruhig und rational erklären, dass Ginnie sich irren musste; aber Michael sagte ihr, dass sie nicht solchen Ärger machen sollte, und zur Strafe musste sie zehn Minuten isoliert von den anderen Kindern sitzen, ohne Stimulation.
Das alles war in höchstem Maße unfair. Es waren die längsten zehn Minuten in Lieserls Leben. Sie schaute Ginnie düster und voller Abneigung an.
Am nächsten Tag freute sie sich darauf, wieder mit den Kindern im Klassenzimmer zu sein. Sie ging mit ihrer Mutter durch sonnenbeschienene Gänge. Dann erreichten sie den Raum, an den Lieserl sich erinnerte – da waren Michael, der sie ein wenig melancholisch anlächelte, und Tommy, und das Mädchen Ginnie – aber Ginnie wirkte jetzt anders: kindlich, unentwickelt…
Wenigstens einen Kopf kleiner als Lieserl.
Lieserl versuchte, die Feindschaft des Vortages wieder aufleben zu lassen, aber es gelang ihr nicht mehr. Ginnie war nur ein Kind.
Sie hatte den Eindruck, als ob ihr etwas gestohlen worden wäre.
Ihre Mutter drückte ihre Hand. »Komm mit. Wir suchen einen anderen Raum, in dem du spielen kannst.«
Jeder Tag war einzigartig. Lieserl verbrachte jeden Tag an einem neuen Ort, mit neuen Leuten.
Die Welt erstrahlte im Sonnenlicht. Endlos zogen leuchtende Punkte über den Himmel: Raumstationen in niedrigen Umlaufbahnen und Kometenkerne, die als Energie- und Treibstoffquellen verankert waren.
Menschen bewegten sich durch ein Meer aus Informationen und hatten Zugang zu allen global verfügbaren virtuellen Bibliotheken, die sie durch subvokale Befehle öffnen konnten. Lieserl lernte schnell. Sie informierte sich über ihre Eltern. Sie waren Wissenschaftler und erforschten die Sonne. Damit standen sie nicht allein; viele Leute befassten sich mit der Untersuchung der Sonne, wofür umfangreiche Mittel bereitgestellt wurden.
Die Bibliotheken enthielten eine Menge Material über die Sonne, von dem sie jedoch nur das wenigste verstand. Aber dennoch erfasste sie einige wesentliche Aspekte.
Früher hatten die Menschen die Sonne als selbstverständlich betrachtet. Nun aber nicht mehr. Jetzt – aus irgendeinem Grund – fürchteten sie sich vor ihr.
Am neunten Tag betrachtete Lieserl sich in einem virtuellen Holospiegel. Sie ließ das Bild sich drehen, so dass sie die Form ihres Kopfes und den Fall des Haares sehen konnte. Sie befand, dass ihr Gesicht noch immer kindlich weich
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