Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
Zeitdauer seit dem Ereignis im Caloris-Becken umfassen. In derartigen Zeitabschnitten fließt die Morphologie der Arten wie heißer Kunststoff. Wie ist es also möglich, dass diese Merkurier sich nicht verändert haben?«
Scholes wirkte unsicher. »Vielleicht haben sie tatsächlich massive evolutionäre Veränderungen erlebt«, spekulierte er. »Veränderungen, die wir nur nicht nachvollziehen können. So ist zum Beispiel der wurmartige Parasit vielleicht der bösartige Abkömmling einer harmlosen Kreatur, die von den Raumfahrern eingeschleppt wurde.«
Dixon kratzte sich am Hals, dort, wo der durch den Anzugkragen gekennzeichnete Schmutzrand zu sehen war. »Wie dem auch sei, wir stehen noch immer vor dem Rätsel, warum der Merkurier sich ins Eis geschraubt hat.«
»Hmm.« Scholes nippte an dem sich abkühlenden Kaffee. »Dazu habe ich ebenfalls eine Theorie.«
»Das habe ich mir fast schon gedacht«, kommentierte Larionova säuerlich.
»Ich frage mich«, sinnierte Scholes, »ob der Impuls, an die Oberfläche zu steigen, nicht eine Art rudimentärer Sehnsucht nach den Sternen darstellt.«
»Was?«
Scholes wirkte echauffiert, aber er setzte seine Ausführungen fort: »Eine tief verwurzelte Kollektiverinnerung, welche die Merkurier dazu veranlasst, ihre verlorene Heimatwelt zu suchen… Warum denn nicht?«
Larionova schnaubte. »Sie sind ein Romantiker, Kevan Scholes.«
Eine Leuchtfläche blinkte auf der Rechnerkonsole. Dixon beugte sich hinüber, berührte die Leuchtfläche und nahm einen Anruf entgegen.
Er schaute zu Larionova hoch, wobei sein Mondgesicht Aufregung verriet. »Irina. Sie haben noch einen Merkurier gefunden«, meldete er.
»Ist er unversehrt?«
»Mehr als das.« Dixon erhob sich und griff nach seinem Helm. »Er lebt noch…«
Der Merkurier lag auf dem staubbedeckten Eis von Chao. Menschen in Raumanzügen umstanden ihn, mit anonymen, undurchsichtigen Helmvisieren.
Der sterbende Merkurier war ein bläulich-purpurroter, neunzig Zentimeter langer Fleischkonus. Fragmente eines zersplitterten, transparenten Panzers waren in sein kristallisierendes Fleisch getrieben worden. Einige der vom Panzer umschlossenen Wimpern streckten und krümmten sich. Soweit Larionova sich erinnern konnte, unterschied sich die Farbe der Wimpern von Dixons Rekonstruktion: Diese hier waren gelbliche Fäden, fast golden.
Dixon konferierte kurz mit seinem Team und schloss sich dann Larionova und Scholes an. »Wir hätten es nicht retten können. Es befand sich in einer Stress-Situation, seit unser Bohrkern in seinen Tunnel durchgebrochen war. Ich vermute, es konnte die Druck- und Temperaturdifferenz nicht verkraften. Seine inneren Organe scheinen schwer geschädigt zu sein…«
»Überlegen Sie mal.« Kevan Scholes stand neben Dixon, mit auf dem Rücken verschränkten Armen. »Es muss Millionen dieser Tiere in dem Eis unter unseren Füßen geben, die in ihren kleinen Kammern eingeschlossen sind. Sicher könnte sich keines von ihnen mehr als hundert Meter oder so von der flüssigen Schicht nach oben graben.«
Larionova blendete ihre Stimmen aus dem Bewusstsein aus. Sie kniete sich hin, auf das Eis; unter den Knien spürte sie das Geflecht aus Heizdrähten, das in ihren Schutzanzug integriert war.
Sie schaute in die brechenden Sonar-Augen des Merkuriers. Die Mandibeln des Wesens – hervorstehend und spitz – öffneten und schlossen sich in der Lautlosigkeit des Vakuums.
Sie spürte den Impuls, ihre behandschuhte Hand an die verwundete Flanke des Wesens zu legen: dieses Tier zu berühren, diese Person, deren Spezies womöglich Lichtjahre zurückgelegt hatte – und fünf Milliarden Jahre –, um mit ihr zusammenzutreffen…
Aber trotzdem wurde sie das nagende Gefühl nicht los, dass Scholes’ schöne Hypothese irgendeinen Fehler aufwies. Die körperliche Gestalt des Merkuriers wirkte plump. Konnte er wirklich einer raumfahrenden Spezies angehört haben? Die Konstrukteure des Schiffes in Caloris mussten doch in der Lage gewesen sein, Werkzeuge zu handhaben. Und Dixons frühere Studie hatte gezeigt, dass die Kreatur nicht einmal ansatzweise über Extremitäten verfügte…
Rudimentäre Gliedmaßen, erinnerte sie sich. Teufel!
Abrupt verschob sich ihre Wahrnehmung dieses Tieres – und seines Parasiten; sie fühlte, dass sich ein Paradigma in ihr auflöste und wie eine Merkur-Schneeflocke in der Sonne schmolz.
»Dr. Larionova. Alles in Ordnung?«
Larionova schaute zu Scholes hoch. »Kevan, ich habe Sie einen
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