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Xeelee 5: Vakuum-Diagramme

Xeelee 5: Vakuum-Diagramme

Titel: Xeelee 5: Vakuum-Diagramme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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wirkte, aber die Frau in ihr entwickelte sich bereits, als ob die Ebbe ihrer Kindheit eingesetzt hätte. Sie würde das Gesicht ihrer Mutter Phillida haben, mit der kräftigen Nase und den großen, verletzlichen Augen; aber sie würde den sandfarbenen Teint ihres Vaters George aufweisen.
    Lieserl hatte das Aussehen einer Neunjährigen. Aber sie war erst neun Tage alt.
    Sie brach die Darstellung ab; sie zerfiel in Millionen winziger Abbildungen ihres Gesichts, die wie Fliegen im Sonnenschein davonflogen.
    Phillida und George waren gute Eltern, dachte sie. Sie verbrachten ihre Zeit mit der Bearbeitung technischer Unterlagen – die wie herabfallende Blätter durch die Luft rollten – und der Untersuchung komplexer, ringförmiger Simulationen von Sternenmodellen. Obwohl beide sichtlich beschäftigt waren, kümmerten sie sich trotzdem hingebungsvoll um sie. Sie bewegte sich in einer glücklichen Welt aus Lächeln, Sympathie und Förderung.
    Ihre Eltern liebten sie vorbehaltlos. Aber das war nicht immer genug.
    Irgendwann begann sie, kompliziertere und detailliertere Fragen zu stellen. So z. B. diese, warum sie derart schnell wuchs. Sie schien nicht mehr zu essen als die anderen Kinder, denen sie begegnete; was konnte also für ihren absurden Wachstumsprozess verantwortlich sein?
    Woher wusste sie so viel? Sie war bei vollem Bewusstsein zur Welt gekommen, wobei sie sogar schon ansatzweise über Sprachvermögen verfügte. Die virtuellen Darstellungen, mit denen sie sich im Unterricht beschäftigte, waren zwar lustig, und sie lernte wohl auch immer etwas dazu; aber das waren dennoch nur Bruchstücke im Vergleich zu dem Erkenntniszuwachs, mit dem sie jeden Morgen aufwachte.
    Woher hatte sie das Wissen im Mutterleib bezogen? Woher bezog sie es jetzt?
    Darauf hatte sie keine Antworten. Aber vielleicht – irgendwie – hatte es alles mit dieser merkwürdigen, globalen Fixierung auf die Sonne zu tun. Sie erinnerte sich an ihre kindlichen Phantasien – dass sie eine Blume wäre, die zu schnell der Sonne zustrebte. Vielleicht, so überlegte sie jetzt, lag doch ein Körnchen Wahrheit in dieser Vision.
    Die seltsame kleine Familie hatte einige schlichte, intime Rituale entwickelt. Lieserls Steckenpferd war, jeden Abend das Schlangen- und Leiterspiel zu spielen. George hatte ein altes Spiel mitgebracht – ein echtes Brett aus Pappe mit Spielsteinen aus Holz. Eigentlich war Lieserl schon zu alt für dieses Spiel; aber sie liebte die Gesellschaft ihrer Eltern, die intelligenten Witze des Vaters, die einfache Herausforderung des Spiels und das Gefühl der abgenutzten, antiken Steine.
    Phillida zeigte ihr, wie sie sich selbstdefinierte Brettspiele programmieren konnte. Ihre am elften Tag erfolgten ersten Bemühungen erbrachten schlichte, regelmäßige Formen, im Grunde Kopien der handelsüblichen Spiele, die sie bereits kannte. Aber bald begann sie zu experimentieren. Sie konzipierte ein großes Brett mit einer Million Feldern, das einen ganzen Raum bedeckte – sie konnte über das Brett laufen, eine waagrechte, etwa in Hüfthöhe befindliche Ebene aus Licht. Sie bestückte das Brett mit komplexen, gewundenen Schlangen, großen Leitern und kräftig glühenden Feldern – alles höchst detailliert.
    Am nächsten Morgen ging sie voller Vorfreude in das Zimmer, in dem sie das Brett aufgebaut hatte – und war sehr enttäuscht. Ihre Bemühungen wirkten blass, statisch, wie kopiert – offensichtlich das Werk eines Kindes, trotz der Unterstützung durch die virtuelle Software.
    Sie leerte das Brett und hinterließ ein in der Luft schwebendes Gitter aus hellen Feldern. Dann schickte sie sich an, es erneut zu bevölkern – diesmal jedoch mit bewegten, halbmenschlichen Schlangen und mobilen ›Leitern‹ in hundertfacher Ausprägung. Sie hatte gelernt, sich Zugang zu den Virtuellen Bibliotheken zu verschaffen, und sie plünderte die Kunst und die Geschichte Dutzender Jahrtausende, um das Brett zu beleben.
    Natürlich war es jetzt nicht mehr möglich, auf dem Brett zu spielen, aber darauf kam es auch gar nicht an. Das Brett war das Ziel, eine kleine Welt für sich. Sie zog sich etwas von ihren Eltern zurück und verbrachte viele Stunden mit intensiven Recherchen in den Bibliotheken. Sie gab den Unterricht auf. Ihre Eltern schienen keine Einwände zu haben; sie unterhielten sich regelmäßig mit ihr, interessierten sich für ihre Projekte und respektierten ihre Privatsphäre.
    Auch am nächsten Tag galt ihr Interesse noch dem Brett. Aber

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