Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
Mandibeln schmerzten, als sie das körnige Eis zermalmte und einen nach oben gerichteten Tunnel vortrieb. Der Panzer schabte an den rauen Wänden des Tunnels, und sie entsorgte Eisbrocken zwischen Körper und Panzer, wobei sie wertvolle Wimpern opferte, die eigentlich den Zweck hatten, weiche Nahrungspartikel aus warmem Wasser zu filtern.
Je höher sie kam, desto härter wurde das Eis. Das Eis war bereits so kalt, dass sie vor Kälte erstarrte; sie konnte nicht einmal mehr die Eisbrocken spüren, die an Körper und Flossen entlangkratzten. Und, so mutmaßte sie, der Tunnel hinter ihr war nicht mehr offen, sondern hatte sich wieder geschlossen und sie hier, in diesem wandernden Käfig, für immer versiegelt.
Die Welt, die sie verlassen hatte – mit ihren Kavernen, den Kaminen, den Kindern und ihren zwei Gefährtinnen – waren entfernte Blasen aus Wärme, ein verblassender Traum. Die einzige Realität war das harte Eis zwischen den Mandibeln und der in ihr lastende, sich ausbreitende Sucher.
Sie spürte, wie ihre Kraft mit der letzten Körperwärme in die unendliche Weite des Eises abfloss. Und trotzdem war der Sucher immer noch nicht befriedigt; sie musste weiterklettern, immer höher, in die endlose Dunkelheit des Eises.
… Auf einmal jedoch – unglaublich – war etwas über ihr, das durch das Eis brach…
Sie kauerte sich in ihrem eisigen Gefängnis zusammen.
»Vor fünf Milliarden Jahren«, sagte Kevan Scholes, »im Frühstadium des Sonnensystems, als die Erde und die anderen inneren Planeten noch von Planetoiden-Irrläufern bombardiert wurden, tauchte ein Schiff hier auf. Ein interstellares Raumschiff, möglicherweise mit FTL-Technologie.«
»Warum? Woher?«, fragte Larionova.
»Das weiß ich nicht. Wie sollte ich auch? Aber das Schiff muss groß gewesen sein – mit der Masse eines Planetoiden oder mehr. Sicherlich hoch entwickelt, mit einer Hülle, die aus Dolores’ superdichtem Pauli-Werkstoff bestand.«
»Hmm. Weiter.«
»Dann geriet das Schiff in Schwierigkeiten.«
»In welche Schwierigkeiten?«
»Das weiß ich nicht. Kommen Sie, Dr. Larionova. Vielleicht wurde es selbst von einem Planetoiden getroffen. Wie dem auch sei, das Schiff zerschellte hier, auf dem Merkur…«
»Richtig.« Dixon nickte und sah Scholes wissbegierig an; der Amerikaner erinnerte Larionova an ein Kind, das von einer Geschichte verzaubert war. »Es war ein katastrophaler Aufprall. Er hat das Caloris-Becken geschaffen…«
»Oh, werden Sie nicht albern«, wies Larionova ihn zurecht.
Dixon schaute sie an. »Caloris war durchaus ein einzigartiger Einschlag, Irina. Außergewöhnlich heftig, sogar im Vergleich zu den frühen Einschlägen, die im System stattfanden… Das Caloris-Becken hat einen Durchmesser von fast dreizehnhundert Kilometern; die Kraterwand würde sich von New York bis nach Chicago erstrecken.«
»Wie konnte es also Überlebende geben?«
Scholes zuckte die Achseln. »Vielleicht verfügten die Raumfahrer über eine Art Schutzschirm. Wir wissen es eben nicht. Auf jeden Fall wurde das Schiff zerstört; und die Dichte des zerdrückten Hüllmaterials ließ es in das Planeteninnere einsinken, durch den Caloris-Krater hindurch.«
»Die Besatzung war gestrandet. Also suchten sie sich einen Ort zum Überleben. Hier, auf Merkur.«
»Ich verstehe«, sagte Dixon. »Die einzige Umgebung, die für ein langfristiges Überleben in Frage kam, war die Eiskappe von Chao Meng-Fu.«
Scholes breitete die Hände aus. »Vielleicht mussten die Raumfahrer Nachkommen konstruieren, die mit der ursprünglichen Besatzung keine Ähnlichkeit mehr hatten, um unter solchen Bedingungen zu überleben. Und vielleicht mussten sie auch etwas ›Planetenformen‹ betreiben; möglicherweise mussten sie einige der hydrothermalen Quellen aktivieren, welche die isolierte Wasser-Welt dort unten schufen. Und so…«
»Ja?«
»Und so handelt es sich bei dem von uns ausgegrabenen Wesen um einen der degenerierten Abkömmlinge jener uralten Raumfahrer, die noch immer im Chao-Meer umherschwimmen.«
Scholes verstummte und richtete den Blick auf Larionova.
Larionova starrte in ihren Kaffee. »Ein ›degenerierter Abkömmling‹. Nach fünf Milliarden Jahren? Sehen Sie, Scholes, auf der Erde sind gerade erst dreieinhalb Milliarden Jahre seit dem Auftauchen der ersten pro-karyotischen Zellen vergangen. Und auf der Erde sind ganze Phyla – Gruppen von Spezies – erschienen und wieder vergangen, und zwar in Perioden, die nicht einmal ein Zehntel der
Weitere Kostenlose Bücher