Xenozid
geriet. Denn obschon Kriegmacher ein blutdürstiger Hundesohn war – gleichwohl diese Bezeichnung bei Pequeninos eigentlich gar keine Bedeutung hatte –, konnte er Vater Estevão nichts antun, ohne seine Brüder zuerst zu überreden, sich so zu verhalten, wie er es wollte. Und wenn er das tat, würde einer der anderen Vaterbäume in seinem Wald davon erfahren und es verraten. Würde Zeugnis ablegen. Wollte Kriegmacher den Eid brechen, den alle Vaterbäume vor dreißig Jahren gemeinsam geleistet hatten, konnte es nicht insgeheim geschehen. Die ganze Welt würde es wissen, und Kriegmacher wäre als wortbrüchig bekannt. Es wäre schändlich. Welches Weib würde den Brüdern dann noch erlauben, eine Mutter zu ihm zu tragen? Welche Kinder würde er noch haben, solange er lebte?
Quim war in Sicherheit. Vielleicht würden sie nicht auf ihn hören, doch sie würden ihm nichts tun.
Doch als er Kriegmachers Wald erreichte, verschwendeten sie keine Zeit damit, ihn anzuhören. Die Brüder ergriffen ihn, warfen ihn zu Boden und zerrten ihn zu Kriegmacher.
»Das war nicht notwendig«, sagte er. »Ich wäre sowieso hierher gekommen.«
Ein Bruder schlug mit Stöcken auf den Baum. Quim lauschte der sich verändernden Musik, während Kriegmacher die Hohlräume in sich veränderte und die Klänge zu Worten formte.
»Du bist gekommen, weil ich es befohlen habe.«
»Du hast befohlen. Ich bin gekommen. Wenn du glauben möchtest, das habe mein Kommen veranlaßt, bitte schön. Doch Gottes Befehle sind die einzigen, die ich freiwillig befolge.«
»Du bist hierher gekommen, um den Willen Gottes zu vernehmen«, sagte Kriegmacher.
»Ich bin hier, um den Willen Gottes zu verkünden«, sagte Quim. »Die Descolada ist ein Virus, von Gott geschaffen, um die Pequeninos zu würdigen Kindern zu machen. Doch der Heilige Geist hat keine Inkarnation. Der Heilige Geist ist eigens Geist, damit er in unseren Herzen wohnen kann.«
»Die Descolada wohnt in unseren Herzen und gibt uns Leben. Was gibt der Heilige Geist euch, wenn er in euern Herzen wohnt?«
»Einen Gott. Einen Glauben. Eine Taufe. Gott predigt nicht das eine Wort zu Menschen und ein anderes zu Pequeninos.«
»Wir sind keine ›Kleinen‹. Ihr werdet sehen, wer mächtig und wer klein ist.«
Sie zwangen ihn hoch und drückten ihn mit dem Rücken gegen Kriegmachers Stamm. Er fühlte, wie sich die Borke hinter ihm veränderte. Sie stießen ihn. Viele kleine Hände, viele Schnauzen, deren Atem er spürte. In all diesen Jahren war er nie davon ausgegangen, solche Hände, solche Schnauzen, könnten zu Feinden gehören. Und selbst jetzt begriff Quim voller Erleichterung, daß er sie nicht für seine persönlichen Feinde hielt. Sie waren die Feinde Gottes, und er hatte Mitleid mit ihnen. Es war eine große Entdeckung für ihn, daß er sogar in einem Augenblick, da er in den Bauch eines mörderischen Vaterbaums gestoßen wurde, keine Spur von Furcht oder Haß in sich hatte.
Ich fürchte den Tod wirklich nicht. Das habe ich nie gewußt.
»Du glaubst, ich werde den Eid brechen«, sagte Kriegmacher.
»Es ist mir in den Sinn gekommen«, entgegnete Quim. Er befand sich nun vollständig in dem Baum, obwohl er vor ihm vom Kopf bis zu den Zehen geöffnet blieb. Er konnte sehen, er konnte atmen – sein Gefängnis war nicht einmal so eng, daß sich klaustrophobische Gefühle einstellten. Doch das Holz hatte sich so glatt um ihn herum zusammengezogen, daß er keinen Arm, kein Bein bewegen, nicht seitlich durch die Lücke vor ihm gleiten konnte. Eng ist das Tor und schmal der Weg, der zur Erlösung führt.
»Wir werden dich einer Prüfung unterziehen«, sagte Kriegmacher. Nun, da Quim seine Worte von innen hörte, konnte er sie kaum noch verstehen. »Soll Gott zwischen dir und mir entscheiden. Wir geben dir zu trinken, soviel du willst – das Wasser aus unserem Bach. Aber Nahrung wirst du nicht bekommen.«
»Mich verhungern zu lassen ist…«
»Verhungern? Wir haben deine Nahrung. In zehn Tagen werden wir dich wieder füttern. Wenn der Heilige Geist dich zehn Tage lang leben läßt, werden wir dich füttern und freilassen. Dann werden wir an deine Lehre glauben. Dann gestehen wir ein, daß wir uns geirrt haben.«
»Der Virus wird mich vorher töten.«
»Der Heilige Geist wird dich prüfen und entscheiden, ob du würdig bist.«
»Hier findet eine Prüfung statt«, sagte Quim, »aber nicht die, die ihr glaubt.«
»Ach?«
»Es ist die Prüfung des Jüngsten Gerichts. Ihr steht vor Christus,
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