Xenozid
fortschickte. Wenn Qing-jao hören mußte, was diesen Schrei verursacht hatte, würde eine andere Dienerin kommen und Wang-mu wecken, die dann ihre Herrin wecken würde – denn sobald eine Frau erst einmal eine geheime Magd hatte, durften sie, bis sie heiratete, nur deren Hände ungebeten berühren.
Also lag Wang-mu wach und wartete ab, ob jemand käme, um Qing-jao zu sagen, warum ein Mann in solcher Qual geschrien hatte, und so nahe, daß man ihn in diesem Zimmer hinten im Haus des Han Fei-tzu hören konnte. Während sie wartete, fiel ihr Blick auf das sich bewegende Display. Der Computer führte die Suchvorgänge durch, die Qing-jao programmiert hatte.
Plötzlich verharrte das Display. Gab es ein Problem? Wang-mu stützte sich auf einem Arm ab; nun war sie dem Display nahe genug, um die letzten Worte lesen zu können. Die Suche war abgeschlossen. Und diesmal gab der Computer nicht die übliche barsche Fehlmeldung: NICHT GEFUNDEN. KEINE INFORMATIONEN. KEINE SCHLUSSFOLGERUNG. Diesmal war die Meldung ein Bericht.
Wang-mu stand auf und trat zum Terminal. Sie tat, was Qing-jao ihr beigebracht hatte, drückte die Taste, die alle neuen Informationen abspeicherte, so daß der Computer sie bewahren würde, ganz gleich, was geschah. Dann ging sie zu Qing-jao und legte sanft eine Hand auf ihre Schulter.
Qing-jao erwachte fast sofort; ihr Schlaf war nie tief. »Der Computer hat etwas gefunden«, sagte Wang-mu.
Qing-jao schüttelte den Schlaf ab wie eine leichte Jacke. Sie eilte zum Terminal und las die Worte.
»Ich habe Demosthenes gefunden«, sagte sie.
»Wo ist er?« fragte Wang-mu atemlos. Der große Demosthenes – nein, der schreckliche Demosthenes. Meine Herrin wünscht, daß ich ihn für einen Feind halte. Aber auf jeden Fall der Demosthenes, dessen Worte sie so aufgewühlt hatten, als ihr Vater sie laut vorgelesen hatte. »Solange sich andere vor einem Mann verbeugen, weil er die Macht hat, sie und alles, was sie haben und lieben, zu vernichten, solange müssen wir alle gemeinsam Angst haben.« Wang-mu hatte diese Worte als Kind fast überhört – sie war nur drei Jahre alt gewesen –, doch nun fielen sie ihr wieder ein, weil sie ein Bild in ihrem Verstand heraufbeschworen hatten. Als ihr Vater diese Worte vorgelesen hatte, erinnerte sie sich an etwas: Ihre Mutter sprach, und ihr Vater wurde wütend. Er schlug sie nicht, doch er zog die Schultern hoch, und sein Arm zuckte leicht, als wolle sein Körper sie schlagen und er könne ihn nur mit Mühe zurückhalten. Obwohl es zu keiner Gewalttätigkeit kam, senkte Wang-mus Mutter den Kopf und murmelte etwas, und die Spannung ließ nach. Wang-mu wußte, daß sie gesehen hatte, was Demosthenes beschrieb: Mutter hatte sich vor Vater verbeugt, weil er die Macht hatte, sie zu verletzen. Und Wang-mu war verängstigt, sowohl damals und dann wieder, als sie sich daran erinnerte. Als sie also Demosthenes' Worte hörte, wußte sie, daß sie wahr waren, und wunderte sich, daß ihr Vater diese Worte vorlesen und ihnen sogar beipflichten konnte, ohne zu begreifen, daß er selbst genauso gehandelt hatte. Deshalb hatte Wang-mu immer mit großem Interesse allen Worten des großen – des schrecklichen – Demosthenes gelauscht, denn ob er nun groß oder schrecklich war, sie wußte, daß er die Wahrheit sagte.
»Nicht er«, sagte Qing-jao. »Demosthenes ist eine Frau.«
Diese Vorstellung verschlug Wang-mu den Atem. Eine Frau! Kein Wunder, daß ich soviel Mitgefühl bei Demosthenes hörte; sie ist eine Frau und weiß, wie es ist, jeden wachen Augenblick von anderen beherrscht zu werden. Sie ist eine Frau, und deshalb träumt sie von Freiheit, von einer Stunde, in der keine Pflicht darauf wartet, erledigt zu werden. Kein Wunder, daß die Revolution in ihren Worten brennt und sie doch immer Worte blieben und nie zu Gewalt wurden. Doch warum nur sieht Qing-jao das nicht? Warum hat Qing-jao entschieden, daß wir beide Demosthenes hassen müssen?
»Eine Frau namens Valentine«, sagte Qing-jao, und dann fuhr sie mit Ehrfurcht in der Stimme fort: »Valentine Wiggin, vor über drei… über dreitausend Jahren auf der Erde geboren.«
»Ist sie eine Göttin, daß sie so lange lebt?«
»Reisen. Sie reist von Welt zu Welt und bleibt nirgendwo länger als ein paar Monate. Nur lange genug, um ein Buch zu schreiben. All die großen Geschichtswerke unter dem Namen Demosthenes wurden von ein und derselben Frau geschrieben, und doch weiß niemand davon. Wieso ist sie nicht berühmt?«
»Sie
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