Xenozid
an. »Du wirst mir nicht glauben, Wang-mu, doch dieses Leben hier in den Feldern ist besser.«
»Nein!« rief Wang-mu. »Euch wurde alles beigebracht. Ihr wißt alles, was es zu wissen gibt! Ihr sprecht viele Sprachen, Ihr könnt alle Worte lesen, Ihr könnt Gedanken denken, die so weit über den meinen stehen, wie meine über denen einer Schnecke.«
»Du sprichst sehr klar und gut«, sagte Qing-jao. »Du mußt eine Schule besucht haben.«
»Eine Schule!« sagte Wang-mu verächtlich. »Was kümmern sie schon Schulen für Kinder wie mich? Wir lernen zu lesen, aber nur so viel, um später Gebete und Straßenschilder lesen zu können. Wir lernen zu zählen, aber nur genug, um später einkaufen gehen zu können. Wir prägen uns die Sprüche der Weisen an, aber nur diejenigen, die uns lehren, mit unserem Platz im Leben zufrieden zu sein und jenen zu gehorchen, die klüger sind als wir.«
Qing-jao hatte nicht gewußt, daß Schulen so sein konnten. Sie dachte, die Kinder lernten in den Schulen dasselbe, was sie von ihren Privatlehrern lernte. Doch sie sah sofort ein, daß Si Wang-mu die Wahrheit sagen mußte – ein Lehrer mit dreißig Schülern konnte nicht all die Dinge lehren, die Qing-jao als eine Schülerin bei vielen Lehrern gelernt hatte.
»Meine Eltern sind sehr niedrig«, sagte Wang-mu. »Warum sollten sie ihre Zeit damit verschwenden, mich mehr zu lehren, als eine Dienerin wissen muß? Dann das ist meine höchste Hoffnung im Leben, sehr sauber herausgeputzt und Dienerin im Haus eines reichen Mannes zu werden. Sie haben sehr sorgsam darauf geachtet, mir beizubringen, wie man einen Fußboden schrubbt.«
Qing-jao dachte an die Stunden, die sie auf den Fußböden ihres Hauses verbracht hatte, um Holzmaserungen von einer Wand zur anderen nachzuspüren. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, wieviel Arbeit es für die Bediensteten bedeutete, die Böden so sauber und poliert zu halten, daß Qing-jaos Gewänder trotz all ihrer Kriecherei niemals schmutzig wurden.
»Ich weiß auch etwas über Böden«, sagte Qing-jao.
»Ihr wißt etwas von allem«, sagte Wang-mu verbittert. »Also sagt mir nicht, wie hart es ist, daß die Götter zu einem sprechen. Die Götter haben mir nie auch nur einen Gedanken gewidmet, und ich sage Euch, das ist schlimmer!«
»Warum hattest du keine Angst, mit mir zu sprechen?« fragte Qing-jao.
»Ich habe den Entschluß gefaßt, vor nichts Angst zu haben. Was könntet Ihr mir antun, das schlimmer ist als das Leben, das ich jetzt schon führe?«
Ich könnte dich zwingen, dir jeden Tag deines Lebens die Hände zu waschen, bis sie bluten.
Doch dann drehte sich etwas in Qing-jaos Verstand, und sie begriff, daß dieses Mädchen solch eine Strafe vielleicht nicht für schlimmer hielt. Vielleicht würde Wang-mu ihre Hände bereitwillig waschen, bis nur noch blutige Haut an den Stümpfen der Gelenke von ihnen übrig war, wenn sie nur alles lernen konnte, was Qing-jao wußte. Qing-jao hatte sich so bedrückt gefühlt, weil die Aufgabe, die ihr Vater ihr gestellt hatte, einfach unmöglich war – und doch war es eine Aufgabe, deren Erfüllung oder Scheitern die Geschichte verändern würde. Wang-mu würde ihr ganzes Leben leben und niemals eine einzige Aufgabe gestellt bekommen, die am nächsten Tag nicht erneut erledigt werden mußte; Wang-mus gesamtes Leben würde nur daraus bestehen, eine Arbeit zu tun, die man nur bemerkte, wenn sie sie schlecht erledigte. War die Arbeit eines Dienstboten letztendlich nicht so fruchtlos wie die Rituale der Reinigung?
»Das Leben einer Dienerin muß hart sein«, sagte Qing-jao. »Ich bin um deinetwillen froh, daß du noch nicht eingestellt wurdest.«
»Meine Eltern warten in der Hoffnung, daß ich hübsch sein werde, wenn ich eine Frau werde. Dann bekommen sie einen besseren Einstellungsbonus, wenn sie mich zum Dienst freigeben. Vielleicht will mich der Diener eines reichen Mannes zur Frau; vielleicht will mich eine reiche Dame als ihre geheime Magd.«
»Du bist bereits hübsch«, sagte Qing-jao.
Wang-mu zuckte die Achseln. »Meine Freundin Fan-liu steht schon in Diensten, und sie sagt, daß die Häßlichen schwerer arbeiten, aber von den Männern des Hauses in Ruhe gelassen werden. Die Häßlichen sind frei, ihre eigenen Gedanken zu denken. Sie müssen keine netten Sachen zu ihren Damen sagen.«
Qing-jao dachte an die Dienstboten im Haus ihres Vaters. Sie wußte, daß ihr Vater niemals eine Dienstmagd belästigen würde. Und zu ihr mußte niemand nette
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