Xenozid
verläuft? Habe ich allen geholfen, so zu tun, als wären sie froh, mich zu sehen, als hätten sie irgendeine Ahnung, wer ich wirklich bin?
»Sie wollte kommen«, sagte Jane in Miros Ohr.
Halt die Klappe, sagte Miro erneut. Ich hätte sowieso nicht gewollt, daß sie kommt.
»Aber sie wird dich später sehen.«
Nein.
»Sie ist verheiratet. Sie hat vier Kinder.«
Das bedeutet mir jetzt nichts mehr.
»Sie hat seit Jahren nicht mehr deinen Namen im Schlaf gerufen.«
Ich dachte, du wärest meine Freundin.
»Das bin ich auch. Ich kann deine Gedanken lesen.«
Du bist eine alte Hexe, die sich in alles einmischt, und du kannst gar nichts lesen.
»Sie wird dich morgen früh besuchen. Im Haus deiner Mutter.«
Ich werde nicht dort sein.
»Du glaubst, du kannst vor ihr davonlaufen?«
Während seines Gesprächs mit Jane hatte Miro nichts von dem gehört, was die anderen um ihn herum sagten, doch das spielte keine Rolle. Valentines Mann und Kinder waren aus dem Schiff gekommen, und sie stellte sie allen vor. Besonders ihrem Onkel natürlich. Es überraschte Miro, wie ehrfürchtig sie mit ihm sprachen. Aber andererseits wußten sie natürlich, wer er wirklich war. Ender der Xenozide, ja, aber auch der Sprecher für die Toten, der Autor der Schwärmkönigin und des Hegemon. Miro wußte das jetzt natürlich auch, doch als er Wiggin kennenlernte, hatte Feindseligkeit zwischen ihnen geherrscht – er war nur ein umherziehender Sprecher für die Toten, der Priester einer humanistischen Religion, der es darauf abgesehen zu haben schien, Miros Familie von innen nach außen zu kehren. Was er auch getan hatte. Ich glaube, ich hatte mehr Glück als sie, dachte Miro. Ich lernte ihn als Mensch kennen, bevor ich erfuhr, daß er eine große Gestalt der Menschheitsgeschichte ist. Sie werden ihn wahrscheinlich niemals so kennen wie ich.
Und ich kenne ihn eigentlich überhaupt nicht. Ich kenne niemanden, und niemand kennt mich. Wir verbringen unser Leben damit, unentwegt zu vermuten, was in einem anderen vorgeht, und wenn wir Glück haben und richtig geraten haben, glauben wir, jemanden zu ›verstehen‹. So ein Unsinn. Selbst ein Affe an einem Computer wird dann und wann ein richtiges Wort eingeben.
Ihr kennt mich nicht, keiner von euch, sagte er stumm. Am wenigsten die alte Hexe, die sich in alles einmischt und in meinem Ohr wohnt. Hast du das gehört?
»Wie könnte ich dieses jämmerliche Wimmern überhören?«
Andrew legte das Gepäck auf den Wagen. Es war nur Platz für ein paar Passagiere. »Miro – willst du mit mir und Novinha fahren?«
Bevor er antworten konnte, hatte Valentine seinen Arm ergriffen. »Oh, tu das nicht«, sagte sie. »Gehe mit mir und Jakt. Wir haben so lange beengt auf dem Schiff gelebt.«
»Richtig so«, sagte Andrew. »Seine Mutter hat ihn fünfundzwanzig Jahre lang nicht gesehen, aber ihr wollt ihn auf einem Spaziergang mitnehmen. Ihr seid mir ja von der rücksichtsvollen Sorte.«
Andrew und Valentine behielten den hänselnden Tonfall bei, den sie von Anfang an zwischen sich begründet hatten, so daß sie seine Entscheidung, ganz gleich, wie sie ausfiel, lachend als eine Wahl zwischen den beiden Wiggins darstellen würden. Er mußte nicht sagen: Ich möchte fahren, weil ich ein Krüppel bin. Und er hatte keine Entschuldigung dafür, beleidigt zu sein, weil ihm jemand eine besondere Behandlung zukommen lassen wollte. Es geschah so feinfühlig, daß sich Miro fragte, ob Valentine und Andrew vorab darüber gesprochen hatten. Vielleicht mußten sie aber auch gar nicht über solche Dinge sprechen. Vielleicht hatten sie so viele Jahre gemeinsam verbracht, daß sie wußten, wie sie zusammenwirken mußten, um die Dinge für andere Menschen zu glätten, ohne großartig darüber nachdenken zu müssen. Wie Schauspieler, die schon so oft gemeinsam die gleichen Rollen gespielt hatten, daß sie ohne die geringste Verwirrung improvisieren konnten.
»Ich gehe zu Fuß«, sagte Miro. »Ich nehme den langen Weg. Geht ihr anderen schon vor.«
Novinha und Ela wollten protestieren, doch Miro sah, daß Andrew die Hand auf Novinhas Arm legte. Was Ela betraf, so ließ Quims Arm um ihre Schulter sie verstummen.
»Komm direkt nach Hause«, sagte Ela. »Wie lange du auch brauchst, du kommst nach Hause.«
»Wohin sonst?« fragte Miro.
Valentine wußte nicht, was sie von Ender halten sollte. Es war erst ihr zweiter Tag auf Lusitania, doch sie hatte schon ohne jeden Zweifel mitbekommen, daß etwas nicht in Ordnung war.
Weitere Kostenlose Bücher