Xperten 1.2 - Der Mindcaller
Tag um Tag vergeht, ohne dass das Kapakapa mit seinen Bildern aus der Vergangenheit aktiv wird, trägt sie ihn häufiger, aber immer unter ihrer Bluse, für andere unsichtbar, verborgen.
Schließlich kommt die Nacht, in der die Ereignisse Aroha unkontrolliert überraschen. Sie hat ihre Musikerfreunde zu einem Fest nach Aorama eingeladen. Als die Sonne untergeht, bemerkt Aroha, und nur sie bemerkt es, dass sich ihre Tierfreunde versammeln: Fantails, Tuis, die Graue Grasmücke und sogar junge Wachteln mit ihren Eltern. Am Himmel kreisen Schwalben aus der gesamten Umgebung als zusätzliche Gäste. Selbst die Bäume scheinen sich der Menschengruppe zuzuneigen.
Aroha spürt die Einheit ihrer menschlichen Freunde mit der Natur in einer unbekannten Schärfe. Das Festessen wird serviert: Auf kleinen Kerzen in Ständern erhitzen sie in kleinen Töpfchen würzige, schmackhafte Soßen, in die sie knusprige Brotstücke tauchen. In andern Gefäßen blubbert süße Schokolade, karamellisierter Zucker, und weiche Soßen mit Nusssplittern, die mit Biskuit und Keksen gegessen werden.
Dann nimmt die Zahl der Gäste zu. Auch Menschen aus ihrer Dorfvergangenheit und die Alten, die sie am Fluss in mancher Nacht als Kind besucht hat, scheinen sich zu ihnen zu gesellen .
Aroha wird sich ihres Kapakapas unter ihrer Bluse bewusst. Heute feiert die ganze Lichtung, das ganze Tal und alles was irgendwie damit zusammenhängt mit ihnen, bis hin zum Meer, zu den Büschen, den Farnen, den Gräsern.
Kalina spielt auf der Bassklarinette mit herzverbrennender Schönheit, manche Musikteile werden plötzlich mitgesungen.
Musik in Bewegung,
Bewegung in der Musik,
Gewebe von Melodien.
Töne,
Klar,
Verführerisch,
Sich ändernd,
Schneller werdend,
Nicht loslassend,
Verzaubernd.
Aroha singt und tanzt mit den anderen. Ihre Füße scheinen den Boden nicht zu berühren, ihr ICH ist nicht mehr in ihrem Körper, fliegend, schwebend, alles sehend. Wer wagt zu sagen, dass Wasser nicht zu Wein werden kann?
Am nächsten Tag kann Aroha nicht mehr sagen, wo die Wirklichkeit am Vorabend für sie aufhörte und sich zu Fantasien wandelte. Aber in ihrem Gedächtnis sind die Bilder des Vater Waldes, des ältesten Sohnes von Vater Himmel eingeätzt, wie er mächtig stand, noch mächtiger als die riesigen Kauri- Bäume, die er beschützt.
Es ist Aroha klar, dass ihr Zustand, ihre Erlebnisse, auf das Kapakapa zurückzuführen sind, dass von diesem ihr anderer ‚Bewusstseinszustand‘, das Aufblitzen von Bildern, Szenen und Einsichten, herrührt. Sie ist sich unsicher, wie weit die anderen Ähnliches spürten, ja überhaupt merkten, dass sie wie verzaubert war. Mit einem vagen Gefühl der Überraschung wird Aroha bewusst, dass sie weder das Kapakapa noch die ‚Kathedrale‘ in der sie es fand, bisher Kalina gezeigt oder ihr davon erzählt hat. Irgendwie schien nie der richtige Augenblick dafür gekommen.
In den nächsten Monaten arbeitet Kalina wie eine Besessene. Aroha bleibt gar nichts übrig als oft allein in das verborgene Tal zu gehen. Dadurch hat sie mehr Zeit, über das geheimnisvolle Kapakapa zu grübeln und wie sie dessen Geheimnissen auf die Spur kommen kann.
Sie unterhält sich einmal mit Kalina ausführlich über jene denkwürdige große, letzte Feier und ob ihr dabei nicht irgendetwas Außergewöhnliches oder Übernatürliches aufgefallen sei. Aber Kalina wird nach wiederholten Fragen ungeduldig. Als ihr Aroha ein bisschen von dem erzählt, was sie glaubt erlebt zu haben, zeigt sie sich ungläubig, skeptisch und, was Aroha mit Trauer feststellt und am Schlimmsten findet, schlichtweg desinteressiert.
[15] Die Hunuas sind eine bewaldete Hügel bzw. Berglandschaft nördlich von Auckland.
4. Bäche und Berge
Um die Mitte des nächsten Universitätsjahres schließt Aroha eine neue Freundschaft. Kevin, ein junger Mann der dem Typ »ruhig und dunkel« entspricht, ist mitten in seiner Ausbildung zum Bergführer und Fachmann für Natur- und Nationalparks. Er geht in dieselben Vorlesungen über Botanik und Zoologie.
Eines Abends, nach den ersten großen Prüfungen, lädt Kevin Aroha und Kalina ins Cyber Cafe ein, wo ein guter Freund einen Teilzeitjob hat. Mike hat sich unter Bergsteigern einen Ruf gemacht, weil er in manchem Sommer an bis zu sechs großen mehrtägigen Touren auf der Südinsel teilnahm. Die Tatsache, dass Mike außerdem einer der begabtesten Physik- und Mathematikstudenten Neuseelands ist, geht neben seinem Ruf als ein mit
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