Xperten 1.2 - Der Mindcaller
über Zeit und Raum und durch alle Prüfungen und Gefahren. Oft vergeht die Zeit so schnell, dass sie überhastet aufbrechen und in die Stadt zurückeilen müssen, denn Kalina besteht darauf, jeden Tag mindest einige Stunden ernsthaft an ihren Studium arbeiten zu können.
Im Laufe der Monate wird das verborgene Tal ein mystisches Zuhause für die beiden Freundinnen. Im späten Frühling oder an den Herbstnachmittagen, wenn die Sonne schräg auf die Lichtung oberhalb des Tales fällt, verwandeln sich die Gräser und Farnkräuter zu einem Schauspiel goldener Farbtöne mit einer solchen Eindringlichkeit, dass Aroha die Gegend ‚Welt des Lichtes‘ oder auf Maori ‚Aorama‘ nennt... einen Ausdruck, den sie nur mehr vage aus der Kindheit kennt, den sie zur Sicherheit im Internet überprüft.
Die Stimmung in ‚Aorama‘ ist so einzigartig, dass Aroha nach langer Zeit auch wieder ihren Skizzenblock zu verwenden beginnt, und auch ihre Staffelei und Malfarben wieder auspackt.
So ist es für Aroha dann auch ganz natürlich, dass sie Kalina als die ungewöhnliche junge Frau des ungewöhnlichen verborgenen Tales sieht und sich vorstellt, dass Kalina feinsten Stoff wie aus Altweibersommer gewoben trägt, in hellen Blau- und Gelbtönen. Und sie schenkt ihr ein Silberkettchen mit kleinen grünen Steinen, die in der Sonne glitzern wie das Meer.
Ode an eine ungewöhnliche junge Frau
An die Überlebendigkeit:
Augen leuchten, glänzen,
Strahlen
Spiegel der Seele
Prächtig
Klugheit
Mehr, als nur sein
Überzeugend, überwältigend
An die Schaffenskraft:
Denkendes Fühlen, fühlendes Denken
Tanzende Großmütter
Starke junge Männer neben
Verkrüppeltem Lachen
An die Überempfindsamkeit:
Kratzende Wolljacken
Mitleid
Fingerspitzen, die suchen
Gefurchte Stirne, Stille, und Verstehen
An die Herausforderung:
Sprache verstehen
Furcht unbekannt
Durchhaltevermögen
An das Geräusch der Brandung:
Weiche Stellen
Warmes Getränk
Vertrauen
Morgengrauen
An den Wind und den heftigen Regen:
Sanftes Warmsein
Bodenlose Tümpel
Friede, unendlich weit
Lieder ohne Gesang
An das weiße Hemd, die weißen Kamelien
und das Mondlicht auf dem Wasser:
Klare Linien die zittern
Unbeschreiblich süß
Griechisch
An den blauen Enzian:
Schönheit in Kleinheit, Eleganz
Welt in einer Welt, in einer Welt, in...
An die Liebe:
Fliegen, aufsteigen
Ohne Grenzen
Durchdringendes Glück
Goldenes Kreisen
Das Ganze ist so viel größer als die Teile
Es gibt manche Gelegenheiten, bei denen sie Musiker nach Aorama einladen. Sie machen dann Musik mit Gitarren, Flöten verschiedenster Art und der Bassklarinette. Und als Begleitung dient der Rhythmus der Brandung.
Sie tanzen im Mondlicht und beim flackernden Feuer bis die ersten auf der Lichtung in ihre Schlafsäcke kriechen. Aber da gibt es noch keine geschlossenen Augen. Sondern es beginnen sich die weichen, dann wieder heftigen Töne der Singenden unvergesslich harmonisch zu vermischen mit dem Klang der Musikinstrumente. Es entsteht eine Bindung, mächtiger als eine starke Umarmung.
Manchmal steigen die beiden Freundinnen tiefer in das verborgene Tal, das etwas Magisches ausstrahlt. Aroha empfindet diese Aura manchmal so stark, dass sie nur mehr flüsternd zu sprechen wagt, und oft so wortkarg wird, das Kalina erstaunt und neugierig das entrückte Gesicht Arohas sieht. Aroha kommt es manchmal fast so vor, als würde sie in eine Kirche gehen, in der die mächtigen Kauri-Bäume die Säulen sind, die die Decke der Kirche, den blauen Himmel, tragen. Ihr Herz scheint dann hinaufzureichen bis zu den Wolken, zum Wind in den Baumwipfeln, zu den Vögeln, die ihren Freunden zurufen, zu den Möwen und Schwalben die ihre Kapriolen hoch über dem Meer machen. Kalina zeigt Aroha die Hummel, die aus dem moosbedeckten Erdloch heraus kriecht, die Ameisen, die Teile von Blättern über Hindernisse hinweg tragen, die schwarzen Käfer, die in der Sonne sitzen, als wollten sie noch schwärzer werden. Beide sammeln die blassgrünen Buschorchideen mit ihrem errötenden Inneren. Und immer hört Aroha die schwachen tiefkehlige Echos von Wind und Meer, als würden sie sie rufen und rufen ...
Nach einem solchen Tag nimmt Aroha ihren Anhänger, das Kapakapa, aus dem Versteck in der Schublade heraus. Sie tastet mit ihren Fingern über die glatte Oberfläche, bevor sie die Kette über den Kopf gleiten lässt. Am Anfang fühlt sie sich unsicher, fürchtet sich vor plötzlich auftauchenden Bildern. Aber als
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