Xperten - Der Anfang: Kurzgeschichten
setzen. Wenn es nach ihr gehe, müsste man in jedem solchen Fall die Terroristen freilassen, müsste man auf die Forderungen der Geiselnehmer eingehen.
Ich persönlich glaube nicht an die »Mut ist schön, aber schlecht«-Schlussfolgerung von Fallaci und noch weniger an jene von Piegler. Es geht bei Flugzeugentführungen und ähnlichen Erpressungen nicht um die einmalige Erfüllung von Forderungen (wenn es nur das wäre, sollte man nachgeben); es geht auch nicht um irgendein »rechtsstaatliches Prinzip« (für welches der Tod von Menschen kaum zu rechtfertigen wäre); es geht darum zu belegen, dass Erpressungen nie zu etwas führen, denn nur so sind zukünftige Erpressungen vermeidbar.
Der sicherste Weg zu verhindern, dass es Flugzeugentführungen gibt, ist klarzustellen, dass bei keiner Entführung, gleichgültig worum es geht, nachgegeben wird. Dass mir diese Aussage vermutlich nicht mehr angenehm ist, sollte ich je in einem entführten Flugzeug sitzen, ist sicher: Ich hoffe, dass ich aber auch dann noch daran glauben werde.
9.6 Der Berg von hinten
Der Traunstein – markanter und schöner Berg am Ostufer des Traunsees – schaut von Gmunden ganz anders aus als von Ebensee (von beiden Punkten recht beeindruckend), während er von Osten her sehr viel weniger ins Auge sticht. Und das gilt für fast jeden Berg, jedes Gebirge, ja das gilt überhaupt für die meisten kleinen oder großen Gegenstände: Schließlich können Vorder- und Rückseite ein und derselben Münze so verschieden sein, dass man sie ohne Erfahrung gar nicht als zwei Seiten derselben Münze erkennen würde!
Warum schreibe ich über diesen Gemeinplatz so ausführlich? Weil viele Menschen nicht verstanden haben, dass dieses »verschiedene Ausschauen« nicht nur für Gegenstände (zum Beispiel für Gebirge), sondern natürlich auch für Ideen (für Gedankengebirge) gilt.
Wie oft habe ich die fast vorwurfsvolle Feststellung gehört: »Aber du hast dich doch zu diesem Thema damals ganz anders geäußert!« Ja, warum auch nicht? Ich bin nicht wankelmütig oder dergleichen. Ich habe nicht eine Ansicht zu einer bestimmten Idee, die Idee hat verschiedenes Aussehen (= sie hat verschiedene Ansichten), je nachdem, von wo aus man sie betrachtet.
»Du hast deinen Standpunkt geändert!«, höre ich manchmal. Ja, natürlich, und ich bin stolz darauf. Den Standpunkt nicht zu ändern, das ist so, als würde man den Traunstein immer nur von Gmunden aus ansehen. Und ein Streit über das Aussehen einer Münze macht wenig Sinn, wenn einer die Vorder-, der andere die Hinterseite ansieht!
Es sollte uns allen klar sein, dass man sehr wohl detailliert über eine Idee (ein Gedankengebirge, um bei der Analogie zu bleiben) sinnvoll reden kann (so wie über den Traunstein), aber ein vernünftiges Verständnis der Idee (Vorstellung vom Traunstein insgesamt) können wird nur erhalten, wenn wir bewusst diese Idee aus verschiedenen Blickpunkten betrachten (also wenn wir bewusst mehrmals den Standpunkt wechseln!). Und eine solche Betrachtungsweise ist nicht wankelmütig, wetterwenderisch, charakterlos oder etwas Ähnliches, sie ist die einzig sinnvolle und zielführende, wie wir eigentlich seit Sokrates wissen sollten. Er lehrte, immer alles von allen Seiten anzusehen und Argumente und Gegenargumente aller Arten zur Klärung des wirklichen Sachverhaltes einzusetzen, nicht einfach eine bestimmte Ansicht (die sich aus der Sicht eines einzigen Standpunktes ergibt) als »objektiv wahr« anzusehen.
Anmerkung von Peter Lechner:
Konrad Adenauer wurde damit konfrontiert, dass er in einer wichtigen Frage plötzlich eine ganz andere Ansicht vertrat als bisher. Seine gelassene Antwort: »Was interessiert mich mein Unsinn von gestern.« Und Kreiskys Ausspruch: »Man wird doch noch seine Ansichten ändern dürfen« passt da wohl auch dazu!
9.7 Die elektronischen Scherben
Als Kind habe ich in Carnuntum (bei Wien) auf den frisch gepflügten Äckern Terrakotta-Bruchstücke aus der Römerzeit gesucht. Manchmal hielt ich ein kleines Stück in den Händen, sichtlich ein Teil einer Vase oder eines anderen Gefäßes, und das kleine Stück war so schön, dass offenbar auch das ursprüngliche Gefäß schön gewesen sein musste, auch wenn vielleicht zum Beispiel ein Henkel die Rückseite ästhetisch zerstört haben könnte …
Heute geht es mir mit elektronischen Netzen wie den ‚Chats’ und ‚Diskussionsforen’ im Internet genau so. Nur sind die Scherben nicht gebrannter Ton, sondern
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