Yolo
Signore DeLauros Platz leer. Obwohl wir alles andere als eine Familie sind, fehlt mir das Familienoberhaupt.
»Wisst ihr, weshalb wir heute nicht komplett sind?«
Kroner hebt die Achseln. Tanja sagt: »Seltsam.«
Kroner ist zu uns beiden Frauen viel zu vertraulich. Erzählt Dinge aus seinem Ehealltag, die mir zu intim sind: »Mag ja sein, dass meine Frau schon immer spießig gewesen ist, jedenfalls geht mir ihre Art, wie sie redet und sich kleidet und ständig über andere herfährt, nicht weniger auf die Nerven als vor unserem sogenannten Neubeginn. Neubeginn ohne Sex. Ja, ja, der Sex ist zum Tabu geworden. Nun, viel los war da auch früher nicht, aber manchmal frage ich mich schon, weshalb wir noch zusammen sind.«
Da er mit ein paar weiteren Beispielen ohne großes Echo bleibt, setzt er zu einem Witz an: »Ein Frosch hüpft auf Krücken durchs Laub. Da fragt ihn ein Artgenosse, was hast du denn gemacht? Der mit den Krücken sagt: Brille vergessen, besoffen gewesen, Knallfrosch gebumst.«
Tanja und ich werden fortan mit Kroner-Witzen unterhalten. Damit sie nicht allzu sehr unter die Gürtellinie abdriften, pruste ich nicht so los, wie Tanja es tut. Sie stachelt den Schwätzer damit regelrecht an; immer tiefer greift er in die Schublade seines Repertoires.
Am Rande des Speisesaals sehe ich Feigenblatt sitzen.
Wir sind erst bei der Hauptspeise, da steht er auf, geht ohne einen Seitenblick zwischen den Tischen durch zum Ausgang. Auch ich möchte den Saal verlassen.
»He, Felizitas, du hast diesen Witz wohl nicht kapiert, dass du nicht lachst?«
Und Tanja bricht erneut in Gelächter aus.
In der Ecke der Bibliothek spielt Gabriel Feigenblatt Schach gegen sich selbst. Wirtin Trude plaudert mit zwei Frauen. Ansonsten ist mir nur der spindeldürre Walker Charly bekannt. Trotz leiser Musik, vieler Patienten, Tassen und Gläser, all dem Süßen auf dem Buffet – zum gemütlichen Tea-Room wird dieser Raum nie.
Christian sollte längst hier sein, auf vierzehn Uhr hat er seinen Besuch angesagt, jetzt ist es halb drei.
Kaum wirklich Neues in der Zeitung. Hier die Politik der Stärke, dort die Politik der Schwäche. Konflikte, Kriegsherde. Die täglichen Wiederholungen.
Christian steckt im Stau. »Tschüss und bis bald.« Im Hintergrund heulten Sirenen. Seine Stimme blieb mir fremd. Als ließe dieses Kurhaus keine Parallelwelt zu, so weit weg ist das Außerhalb gerückt.
Auf der Tischplatte trommeln Finger, es sind die meinen.
Auch in der zweiten Zeitung steht, woran wir uns alle gewöhnt haben. Die unverschämte Platzierung eines Inserats indes erschreckt mich; ist mir peinlich, als trüge ich an solchem Wahnwitz die Mitschuld: Nur eine dünne Linie trennt das Foto eines grausam verletzten Dissidenten von riesigen Lettern, die
19 Sekunden bis zur Glückseligkeit
verkünden. Diese Sekunden benötigt eine Stoffdach-Automatik, um ein BMW -Cabrio in eine
edle Sonnenbank
zu verwandeln … Noch im Eingangstext ein grober Grammatikfehler! Und was tut die Deutschlehrerin? Sie sucht in diesem Stuss nach weiteren Sprachschnitzern … Christian hat Recht: Ich bin nicht fähig, Beruf und privat zu trennen. Neulich habe ich träumend sogar unseren Rektor wegen eines Pleonasmus’ gerüffelt. Laut und in Hochdeutsch. Das zumindest hat Christian behauptet, weil er davon aufgewacht ist. Ich nehme alles mit in den Schlaf. Das mag er gar nicht. Wohingegen Christian es toll findet, mitten in der Nacht bei mir anzukoppeln. Unerträglich wurde das, als er in einen meiner Träume von meinem sterbenden Vater drang. Während ich um eine Definition echter Liebe rang, schrie Christian: »Dein Vater ist tot, lass ihn endlich in Frieden ruhen!«
In Frieden ruhen
, aber mit sarkastischem Unterton. Nicht einmal zu Vaters Beerdigung ist er erschienen, und dann trampelt er in meine Gefühlswelt wie ein Fremder.
Was hätte Chris wohl als Todesanzeige geschrieben, wäre nach Sonja auch ich gestorben? Meine vielen Freunde hätten mich kaum vermisst; gewisse Lücken schließen sich wie von selbst.
Neuerdings finde ich Todesanzeigen interessant. Insbesondere, wenn sich der Jahrgang der Verstorbenen dem meinen nähert. Wie hier: Nur acht Jahre älter war die Frau. Die breite, fast leere Todesanzeige ist in ihrer Schlichtheit ergreifend:
Das Leben war schön
. Darunter einzig ihr Name und ein schlichtes
Tschüss
.
Sind wir Lebenden wirklich die Sieger?
Christian bringt mir Pralinen, er hat für mich sogar die Post abgeholt. Ich bitte ihn, sie
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