Yolo
gleich wieder mitzunehmen. Er versteht das nicht, ich ebensowenig.
Kroner kommt herein: »Erlaubt?« Er macht nicht die geringsten Anstalten, sich an einen anderen Tisch zu setzen. Ich stelle die beiden Herren einander vor.
Von der politischen Seite her habe ich das Dickerchen bisher nicht kennengelernt. Er kann sich über die jüngsten Krawalle ganz schön ereifern: »Dass diese Glatzköpfe einen solchen Zulauf bekommen, hätte ich nie gedacht«, sagt er. »Wer ihnen nicht passt, wird kurzerhand niedergemacht. Eine xenophobe, rückwärtsgewandte Saubande!«
Die Rechtsradikalen bringen die beiden Männer mehr in Schwung als mich.
Christian drückt sich differenzierter aus: »Rechtsradikale Positionen sind häufig Antipositionen gegen die Moderne, gegen den Individualismus …«
»Ja, und gegen die Gleichberechtigung der Frau«, ergänze ich, um auch mal etwas zu sagen.
Kroner geht darauf nicht ein. Er beißt sich jetzt an der
rassistischen Horde
fest, ist völlig in seinem Element, ein Ende ist nicht abzusehen. Chris rettet uns nicht aus dieser Situation, die uns die knappe gemeinsame Zeit kostet. Ich nehme allen Mut zusammen: »Herr Kroner, Christian kann nur kurz bei mir bleiben, wir …«
Der liebe Kerl verabschiedet sich ohne Spur von Kränkung.
Chris und ich setzen uns in den hinteren Teil der Bibliothek, wo uns niemand mehr stört.
»Als ich auf dich gewartet habe, bin ich an den Todesanzeigen hängen geblieben.«
»Oh je.«
»Da ist einer gestorben, der hat nicht einmal mein Alter erreicht. In einer anderen Anzeige stand
Das Leben war schön
und darunter nur
Tschüss
. Ist das nicht beeindruckend?«
»Du liest ja makabres Zeug! Hast du denn nichts Gescheiteres zu lesen als Todesanzeigen? Das tut dir nicht gut. Lies doch lieber etwas Erheiterndes.«
Er rückt seinen Stuhl näher, streicht mir eine Strähne aus der Stirn, streichelt die Narbe an meiner Schläfe. Ich mag seine Zärtlichkeit, reagiere jetzt aber etwas unwirsch, weil er einfach das Thema wechselt.
»Du, der Verlauf des gestrigen Fußballspiels interessiert mich wirklich nicht.«
»Interessiert dich denn überhaupt noch etwas?«
»Entschuldige.«
»Schon gut.«
»Soll ich mit dir ein kleines Spiel machen?«
Bevor Christian antworten kann, ziehe ich den aus dem Journal gerissenen Artikel aus der Tasche. »Lass uns mal schauen, ob du Burn-out-gefährdet bist.« Und schon lese ich ihm die erste Frage vor:
Haben Sie sich hohe berufliche Ziele gesteckt und sind bereit, viel Zeit und Engagement in deren Verwirklichung zu stecken?
»Aber sicher!«
Betrachten Sie Pausen vor allem als Zeitverlust?
»Klar.«
Fällte es Ihnen schwer, Arbeitsaufgaben abzulehnen, wenn Kollegen, Vorgesetzte oder Kunden Sie um deren Erledigung bitten, auch wenn Sie eigentlich schon genug zu tun haben?
»Der Kunde ist König, und zudem habe ich nicht genug, sondern eh immer zu viel zu tun.«
Haben Sie das unwiderstehliche Bedürfnis, auch im Privatleben möglichst produktiv und leistungsfähig zu sein?
Bevor Chris die Antwort gibt, zwinkert er mir zu. »Deine unwiderstehlichen Bedürfnisse zwingen mich doch, leistungsfähig zu sein …«
»Hör schon auf zu spaßen, du sollst die Fragen ernst nehmen.«
»Tue ich ja. Los, die nächste.«
Tendieren Sie dazu, beruflichen beziehungsweise privaten Ärger und Frust eher herunterzuschlucken, anstatt ihn offen zu äußern?
»Nun, Konzessionen muss doch jeder machen.«
»Ja oder nein?«, frage ich nach.
»Ja und nein«, antwortet Christian.
Schwanken Sie stark in Ihrer arbeitsbezogenen Selbsteinschätzung – mal halten Sie sich für äußerst fähig und geschickter als alle anderen, dann wieder für völlig inkompetent und kurz vorm Versagen?
»Würde ich Versagensängste und Inkompetenz zulassen, könnten wir den Laden wohl bald schließen. Mich für fähig und geschickter als andere zu halten, gehört zu meinem Beruf.«
»Ja oder nein?«
»Eher nein.«
»Willst du die Auswertung wissen?«
»Die kannst du auch gleich liefern?«
»Also, du gehörst eindeutig zu den Burn-out-gefährdeten Menschen, dazu hätten allein drei
Ja
ausgereicht. Und um herauszufinden, ob bei dir bereits Symptome eines Burn-outs vorhanden sind, werden hier unten noch weiterführende Adressen angegeben.«
»Wo hast du denn diesen Quatsch her?«
»Eben, dass das Quatsch ist, finde ich auch. Aber
ich
soll mich hier kurieren lassen. Wovon? Ein Psychiater kann weder Sonja wieder lebendig machen noch mir meine Schuldgefühle
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