You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
Michael hatte sich immer danach gesehnt, dass unser Vater so etwas getan hätte, aber ich vermute, dass Mr. Gordy einfach wesentlich mehr in sich selbst ruhte: Er war ein freundlicher Familienmensch und gleichzeitig auch ein gewiefter Geschäftsmann, und es gelang ihm, beide Seiten seiner Persönlichkeit miteinander in Einklang zu bringen. Ein gutes Beispiel dafür war ein Abend, an dem er früh zu Bett ging und uns allein im Wohnzimmer ließ. „Mir ist egal, was ihr alles esst oder was ihr sonst noch so treibt“, meinte er, „solange ihr hinter euch aufräumt.“ Macht, was ihr wollt. Ich vertraue euch – fühlt euch ganz wie zu Hause. Wir sahen einander ungläubig an, warteten, bis die Tür zuging, dann fielen wir über den Kühlschrank her und hockten uns vor den Fernseher. Hollywood erschien uns wie das Himmelreich ohne Einschränkungen.
Ich kenne die Geschichten, in denen Mr. Gordy als unfair, rücksichtslos und gemein dargestellt wird, aber das deckt sich nicht mit meiner Erfahrung, denn wir lernten ihn als liebevollen Menschen kennen. Vermutlich stammt diese Kritik von Leuten ohne Geschäftssinn oder von ehemaligen Künstlern, die der Meinung sind, dass ihnen das eine oder andere zugestanden hätte, und die vergessen haben, dass er dafür sorgte, dass ihre Namen in aller Munde waren. Von Leuten eben, die zu anderen Labels gingen und dort neue, bessere Deals abschlossen und darüber vergaßen, dass er die ganze harte Basisarbeit geleistet hatte, dass er sie aufgebaut und ihnen eine weltweite Plattform zur Verfügung gestellt hatte, die sie für seine Rivalen überhaupt erst interessant machte – was für uns zu einem späteren Zeitpunkt auch noch wichtig werden sollte.
Wenn Amerikas klügste Köpfe nach Harvard gingen, dann zog es Amerikas größte Talente zu Motown – und die Künstler, die hier ihren Abschluss machten, bekamen die Gelegenheit, vom Wissen eines ganzen Lebens zu profitieren. „Ihr seid hier in der besten Schule des ganzen Musikgeschäfts“, sagte Mr. Gordy. Mit unserer Ausbildung ging es rasant voran: Jeder Song, so lernten wir, ist eine drei Minuten lange Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Musik erzählt eine Story, und der lineare Verlauf sorgt dafür, dass sie auf der ganzen Welt verstanden wird.
Der Refrain muss den Spannungsbogen auf den Punkt bringen: Man muss sofort wissen, worum es geht, wenn man dabei mitsingt („Billie Jean is not my lover / She’s just a girl that says that I am the one / But the kid is not my son“). Der Inhalt des Textes muss zugänglich und kommerziell sein, aber auch eine Botschaft haben; die Dynamik des Songs muss sich steigern, und er hat im entscheidenden Moment richtiggehend zu explodieren.
Und dann waren da noch die anderen Elemente, die Mr. Gordys typische Handschrift verrieten. Immer mit dem Hook aufhören, damit das Letzte, woran sich die Leute erinnern, der Titel ist. Wie bei der Blende von „I Want You Back“ oder „I’ll Be There“.
Auch bezüglich der Vermarktung und Präsentation mussten wir viel lernen. Statt mit einem VW-Bus waren wir nun in Limousinen unterwegs, und wir schleppten unser Equipment nicht mehr selbst, sondern hatten Roadies. Außerdem war es nicht mehr Joseph, der sich um alles kümmerte, sondern ein Management-Team und A&R-Mitarbeiter, und statt gebrauchter Kleidung bekamen wir eine professionelle Bühnengarderobe. Wir erhielten sogar Unterricht in Etikette, Public Relations und der richtigen Haltung in der Öffentlichkeit.
Man zeigte uns, wie wir unsere Gruppe präsentieren sollten: Wie man in den Medien sicher auftrat, wie man sich höflich zeigte, wie man Fragen in einem Interview beantwortete, was man sagte und was man besser nicht sagte. Es gab ein paar sorgfältig ausgedachte Marketing-Mythen, die wir fleißig verbreiteten, weil man uns das aufgetragen hatte: „Michael, du hast bei Diana Ross gewohnt“ – „Jungs, immer dran denken, Diana Ross hat euch entdeckt“ – „Michael, wir sagen, dass du acht bist und nicht zehn, dann kommst du noch ein bisschen niedlicher rüber.“
Dann ging es um den „Look“. Auf Klemmbrettern legte man uns ausgefeilte Bleistiftskizzen vor, die uns in Formation mit verschiedenen Kostümen und natürlich mit unseren großen Afros zeigten. Die Kleidung umfasste Pullunder, Blumenhemden, reich bestickte Schlaghosen und psychedelische Westen mit Fransen – ein Stil, der sich irgendwo zwischen Sly & The Family Stone und der Fernsehserie The Mod Squad
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