You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
ganz eng nebeneinanderstellten. Er saß auf seinem Stuhl hinter der Glasscheibe, hob den Arm im Halbrund über seinen Kopf wie eine Ballerina und formte mit den Lippen: „Näher zusammen, näher zusammen.“ Wenn dieser untersetzte Mann mit seinen kräftigen Armen diese Bewegung machte, die uns so an zierliche Tänzerinnen erinnerte, mussten wir immer lachen, allerdings hatte Hal dafür wenig Verständnis. Er drückte auf Aufnahme, wir fingen an zu singen, dann hob Hal wieder den Arm … und Michael fing an zu kichern. „Kommt schon, Jungs! Konzentriert euch! Wir haben eine Menge Arbeit vor uns“, schimpfte Hal. Je ernster er wurde, desto mehr musste Michael lachen. Und wenn er erst einmal angefangen hatte, konnte er nicht mehr aufhören; sein Lachen war ansteckend. „Kommt schon, Jungs, ihr müsst die Sache ernst nehmen!“
Vorher hatten wir bei den Proben ziemlich wenig gelacht. Wahrscheinlich ließen wir jetzt alles raus, nachdem wir uns unter Josephs hartem Regime so sehr hatten zurückhalten müssen. Aber es konnte sich dennoch niemand über unsere Arbeitsmoral beklagen: Wir waren stets einsatzbereit, und wir wollten nur zu gern von einem Team lernen, das wusste, wie man Hits schrieb und arrangierte. Von einem Team, das wusste, wie sich ein Hit anfühlte . Denn darum ging es, um das Feeeeeling … genau, wie Joseph uns das ganz zu Anfang schon beigebracht hatte. Michaels Fans wird das aus seinen späteren Interviews vertraut vorkommen, denn er kam immer wieder darauf zurück: „Ich fühle die Musik … es geht um die Stimmung … ich fühle es in meinem Herzen.“
Ein enorm gutes Feeling war es, unseren ersten eigenen Jackson-5-Song einzuspielen: „I Want You Back“. Ursprünglich hieß der Titel „I Want To Be Free“ und war für Gladys Knight vorgesehen; geschrieben hatte ihn Freddie Perren, der nach seiner Zeit mit Jerry Butlers Band als Produzent zu Motown gestoßen war. Dabei war es schon ein lustiger Zufall, dass wir uns hier erneut über den Weg liefen; das erste Mal waren wir uns begegnet, als Freddie mit Jerry im Regal Theater gespielt hatte und wir für sie die Vorgruppe machten. Und nun nahmen wir unseren ersten gemeinsamen Song auf. Wir waren davon überzeugt, dass wir gute Arbeit abgeliefert hatten, als wir die Aufnahme das erste Mal hörten, aber vor allem waren wir total aufgeregt, weil es die Geburtsstunde unseres eigenen Sounds war. Es war keine Coverversion, sondern etwas, das uns allein gehörte, und wir liebten den Beat, den dieser Song mitbrachte.
Dann bekam Mr. Gordy die Aufnahme vorgelegt, und er war nicht besonders beeindruckt. „Tut mir leid, aber das ist nicht gut genug … ich spüre hier nichts. Fangt noch mal von vorn an.“ Rückblickend weiß ich nicht, wer höhere Maßstäbe anlegte, Joseph oder Mr. Gordy. Aber wir waren es gewöhnt, Sachen oft zu wiederholen, und daher maulte niemand.
Michael bekam hier den ersten Anschauungsunterricht, wie man die Anatomie eines Songs seziert und versteht. Mr. Gordy hörte sich etwas an, fand alles daran schlecht und strich einen Bestandteil nach dem anderen weg, bis der Song nur noch aus dem Drumbeat bestand. „Weniger ist mehr … weniger ist mehr“, sagte er und wendete das Textblatt, auf dem er seine Änderungen mit Kugelschreiber notierte, in seiner Hand hin und her. Wenn er das Gefühl hatte, dass beim Schlagzeug noch etwas fehlte, dann setzte er etwas hinzu, wenn der Bass zu viele Noten spielte oder aber zu wenige, dann änderte er das entsprechend, wenn die Keyboards nicht so stark dominieren sollten, machte er sie etwas weicher, wenn die Streicher zu sehr schluchzten, dimmte er sie herunter. Er legte einen Song unters Mikroskop und dann wie bei einer Zwiebel Schicht um Schicht frei. Wenn er sich das Playback anhörte, dann wusste er sofort, wo die Probleme lagen und welche Dinge geändert werden mussten.
Und seine Pingeligkeit zahlte sich aus, denn als wir uns die fertige Fassung von „I Want You Back“ anhörten, klang sie unglaublich. Es bestand eben doch ein Unterschied zwischen einem Titel, der sich „sensationell“ anhörte, und einem Song, der einfach überfrachtet wirkte. „Weniger ist mehr, Jungs … weniger ist mehr“, erklärte Mr. Gordy uns augenzwinkernd.
Musiker, die später mit Michael arbeiteten, fanden diesen durchgängigen Perfektionismus der Motown-Schule in der Produktion seiner Songs wieder. „Notfalls muss ein Musiker bei mir ein paar hundert oder tausend Mal etwas einspielen, bis es eben so
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