Young Sherlock Holmes 1
wie es aussah, würde sich Mycroft darum kümmern.
Sherlock stellte fest, dass er von dem Brief hin- und hergerissen war. Auf der einen Seite fühlte er sich aufgemuntert und fröhlicher, nun da Mycroft Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, und er wusste, dass Amyus Crowe die Zustimmung seines Bruders fand. Andererseits jedoch war er jetzt zutiefst besorgt über etwas, das er zuvor lediglich als eine dumpfe Besorgnis wahrgenommen hatte: nämlich MrsEglantine und ihre offensichtliche Abneigung gegen ihn.
»Interessanter Brief?«
Die tiefe Stimme war warm und hatte einen Akzent, den Sherlock nicht einordnen konnte. Er drehte sich um, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.
Der Mann, der unmittelbar draußen vor der offenen Eingangstür stand, war groß und hatte einen mächtigen Brustkorb. Sein zu allen Seiten abstehender widerspenstiger Haarschopf war schlohweiß und seine Haut hing in kleinen Fältchen am Hals herab. Aber die Art, wie er seinen Körper hielt, strafte sein offensichtliches Alter Lügen. Das ledrige, braungebrannte Gesicht ließ darauf schließen, dass er sich lange in der Natur und unter einer heißeren Sonne aufgehalten hatte, als man sie in England gewohnt war. Was seinen beigefarbenen Anzug betraf, so waren Sherlock Schnitt und Material vollkommen unbekannt. In seiner Hand hielt der Fremde einen breitkrempigen Hut.
»Von meinem Bruder Mycroft«, antwortete Sherlock, nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Sollte er nach einem Hausmädchen rufen oder den Mann hineinbitten?
»Ah, Mycroft Holmes«, sagte der Mann, »Wie ich sehe, haben wir beide gemeinsame Bekannte. Und da ich nicht glaube, dass du alt genug bist, um Sherrinford Holmes zu sein, habe ich stattdessen vermutlich den jungen Sherlock Holmes vor mir.«
»Sherlock Scott Holmes, zu Ihren Diensten«, sagte Sherlock und straffte sich. Er sah sich um. »Ähm, würde es Ihnen etwas ausmachen hereinzukommen, Mr …?«
»MrAmyus Crowe«, antwortete der Mann. »Ehemals aus Albuquerque im Staate New Mexico, Teil der Vereinigten Staaten von Amerika. Und du bist sehr freundlich.« Er trat ein. »Aber wahrscheinlich hast du meine Identität bereits erraten. Ich bin hier auf Empfehlung deines Bruders, und er würde dir sicher nicht schreiben, ohne das zu erwähnen, nicht wahr?«
»Ich sollte wohl nach einem Hausmädchen suchen oder …«
Bevor er den Satz beenden konnte, trat MrsEglantine aus dem Schatten unter der großen Haupttreppe hervor. Wie lange hatte sie dort gestanden? Hatte sie Sherlock dabei beobachtet, wie er den Brief gelesen hatte?
»MrCrowe?«, fragte sie. »Der gnädige Herr erwartet Sie. Bitte, folgen Sie mir hier entlang.« Sie deutete in Richtung Bibliothek.
Sherlock war außer sich vor Schreck und zitterte. Sie konnte unmöglich wissen, was in dem Brief stand. Es sei denn, sie hatte ihn über Dampf geöffnet und anschließend wieder versiegelt, und sein Verstand weigerte sich, ihr das zuzutrauen. Aber nichtsdestotrotz kam er sich vor, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden.
Amyus Crowe betrat die Halle und legte seinen Hut und Gehstock an der Garderobe ab. Er ging auf Sherlock zu. »Wir sprechen uns später«, sagte er und legte eine Hand auf Sherlocks Schulter. Obwohl Sherlock groß für sein Alter war, überragte Amyus Crowe ihn dermaßen, dass er sich wie ein zehnjähriger Junge vorkam. »Halte dich hier ein bisschen auf, mein Sohn.« Er blickte sich in der Halle um. »Und versuche herauszufinden, wie viele von diesen Gemälden Fälschungen sind, während du hier wartest.«
MrsEglantine versteifte sich. »Keines davon ist gefälscht!«, zischte sie. »Der gnädige Herr würde so was niemals zulassen!«
»›Keines davon‹
ist
eine akzeptable Antwort«, sagte Crowe augenzwinkernd, als er an Sherlock vorbeiging. Er übergab MrsEglantine eine Karte. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meine Gegenwart ankündigen könnten.«
MrsEglantine führte Amyus Crowe in die Bibliothek. Augenblicke später tauchte sie wieder auf und entfernte sich, ohne Sherlock noch einmal anzusehen. Er sah, wie sie im Schatten an der Treppe verschwand, und fragte sich, ob sie wohl dort stehengeblieben war, um ihn zu beobachten.
Es drangen Stimmen aus der Bibliothek, aber Sherlock konnte keine einzelnen Wörter verstehen. Er schlenderte an der Eichenvertäfelung entlang und nahm nacheinander die spezifischen Einzelheiten jedes einzelnen Gemäldes in sich auf.
Keines der Bilder war beschriftet.
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