Young Sherlock Holmes 1
Crowes Stimme lag keine Spur von Kritik, und er hatte gute Argumente.
»Ich verstehe«, sagte er nickend.
»Das glaube ich dir«, erwiderte Crowe. »Lass uns einen Spaziergang machen und sehen, was wir so finden.«
Crowe nahm seinen Hut und Stock von der Garderobe neben der Tür, und zusammen traten sie in den strahlenden Sommersonnenschein hinaus. Crowe überquerte den Rasen vor dem Haus und steuerte auf die Bäume zu, während er über die verschiedenen Wolkenformen am Himmel redete und wie sie mit der jeweiligen Wetterlage zusammenhingen.
»Hast du dir jemals Gedanken über Füchse oder Hasen gemacht?«, fragte er nach einer Weile.
»Nicht speziell«, antwortete Sherlock, der sich fragte, wohin dieser Themenwechsel wohl führen würde.
»Sagen wir mal, du hättest hundert Füchse und hundert Hasen in einem Wald. Und der Wald ist von einem Zaun umgeben, so dass kein Tier heraus kann. Was würde passieren?«
Sherlock überlegte einen Moment. »Die Hasen würden Junge bekommen, die Füchse würden Junge bekommen und die Füchse würden die Hasen fressen.«
»Alle Hasen?«
»Die meisten. Dann wären die restlichen Hasen schwerer zu finden, und vermutlich würden sie anfangen, sich zu verstecken.«
»Was würde dann passieren?«
Unsicher, wohin das Ganze führen würde, zuckte Sherlock mit den Schultern.
»Ich vermute, infolge des Nahrungsmangels würden die Füchse zu sterben beginnen.«
»Und die Hasen?«
»Die würden weiterhin Gras fressen, sich verstecken und fortpflanzen, so dass sich ihre Zahl wieder erhöhen würde.« Auf einmal verstand Sherlock. Es war, als wäre in seinem Kopf ein Leuchtfeuer explodiert. »Und die Zahl der Füchse würde wieder steigen, da sie mehr Hasen fangen, ordentlich was zu fressen kriegen und sich vermehrt fortpflanzen. Und vielleicht würden sich die Füchse so vermehren, dass sie mehr und mehr Hasen fressen, bis die Hasen erneut weniger werden.«
»Und dieser Prozess würde sich stetig wiederholen. Wie zwei aufeinander folgende ansteigende und abfallende Wellen. Hinter der ganzen Sache steckt ein Zweig der Mathematik namens Differentialrechnung, der du deine Aufmerksamkeit widmen solltest. Sie ist äußerst nützlich. Differentialgleichungen könntest du übrigens auch bei Kriminellen und Polizisten in einer Stadt anwenden, wenn du möchtest.«
Er lachte unvermittelt auf. »Polizisten fressen in der Regel natürlich keine Kriminellen, aber das Grundprinzip ist das gleiche. Isaac Newton und Gottfried Leibniz haben diese Art der Mathematik unabhängig voneinander entwickelt. Zudem wurde sie unlängst von Augustin Cauchy und Bernhard Riemann erweitert. Riemann ist übrigens vor ein paar Monaten gestorben. Ein großer Verlust für die Welt, denke ich. Auch wenn ich nicht glaube, dass die Welt es bisher überhaupt mitbekommen hat.«
Sherlock bezweifelte insgeheim, dass Mathematik jemals wichtig für ihn werden würde, und ließ das Thema auf sich beruhen. Er war froh, »seine Speicherkammern des Gehirns« mit Sachen zu füllen, die mit Poesie und Musik zu tun hatten. Mit Sachen also, die er interessant fand. Auf mathematische Gleichungen jedoch konnte er gerne verzichten.
Nachdem sie eine Weile durch den Wald gewandert waren und Crowe ihn unablässig auf die unterschiedlichsten Pflanzen aufmerksam gemacht hatte, erreichten sie die Steinmauer, die die Grenze des Holmeschen Grundbesitzes markierte. Crowe zeigte nach rechts. »Du gehst in diese Richtung und ich in die andere. Sammle so viele Pilze, wie du nur tragen kannst. In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier und dann zeige ich dir, wie man giftige von essbaren Pilzen unterscheidet. Hüte dich davor, einen zu probieren, bevor ich dir das gezeigt habe. Das Probieren ist zwar ein zuverlässiges Analyseverfahren, aber es neigt auch dazu, ein tödliches zu sein.«
Crowe ging nach links, bog Büsche und Grasbüschel mit seinem Gehstock zur Seite und musterte den Untergrund. Sherlock marschierte in die entgegengesetzte Richtung und suchte den Boden ab, in der Hoffnung, im dichten Farnkraut fleischig-weiße Pilzköpfe aufleuchten zu sehen.
Innerhalb von Minuten war Amyus Crowe außer Sichtweite. Sherlock suchte beharrlich weiter. Aber abgesehen von einigen braunen, scheibenförmigen Geschwülsten, die seitlich aus einem Baumstamm herauswuchsen und bei denen er nicht sicher war, ob er sie überhaupt einsammeln sollte, war nichts zu entdecken.
Plötzlich erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Zwischen den
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