Young Sherlock Holmes 1
seine Beine aus dem Rhythmus und er strauchelte. Er hatte bereits den ebenen Grund des Schachtes erreicht, ohne es gemerkt zu haben. Er befand sich in einer von Gaslampen erleuchteten Halle, aus der zwei bogenförmige Tunnelöffnungen in gleicher Richtung fortführten. Die Bögen waren etwa vier bis fünf Mal so hoch wie ein erwachsener Mann und aus Ziegelsteinen gemauert. Sherlock musterte die Steine. Wohin sein Blick auch fiel, an allen Stellen war das Mauerwerk triefend nass. Und Sherlock wusste auch warum. Der Lage der Öffnungen nach zu schließen, verliefen die beiden Tunnel direkt unter der Themse hindurch und endeten vermutlich auf der Nordseite in einem ähnlichen Schacht.
Wenn er es bis zur anderen Seite schaffte, könnte er vielleicht noch einmal mit dem Leben davonkommen.
Er stolperte in den Tunnel zu seiner Linken hinein. Auch hier war alles voller Menschen. Entspannt flanierten sie umher, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, unter einem Fluss herumzuspazieren. Sogar Pferde wurden hier in aller Seelenruhe am Halfter mitgeführt. Die Leute hatten offensichtlich keine Vorstellung von den Abertausenden Tonnen von Wasser, die sich nur ein paar Meter über ihren Köpfen befanden und nur von bröckeligem Mauerwerk und ein bisschen Putz zurückgehalten wurden.
Es gab Zeiten, in denen übermäßig logisches Denken ein Fluch war. Und dieser Moment gehörte zweifellos dazu. Sherlock hatte eine gute Vorstellung von dem gewaltigen Druck, der auf den Tunnelwänden lastete. Nur ein kleiner Riss und sie würden alle im hereinströmenden Wasser ertrinken.
Trotzdem lief er immer weiter. Schließlich hatte er keine andere Wahl.
Oder vielleicht doch? Im Laufen fiel ihm auf, dass die beiden Tunnel parallel zueinander verliefen und etwa alle zehn Meter durch kleinere Nebentunnel miteinander verbunden waren. In sämtlichen dieser Nebentunnel hatten unternehmenslustige Londoner Stände aufgebaut, an denen sie Essen, Getränke, Kleidung und allen möglichen Krimskrams verkauften. Wenn er sich einfach durch einen dieser Tunnel davonstahl, könnte er sich in dem anderen Haupttunnel wieder zurück zum Eingangsschacht begeben, zum Lagerhaus zurückkehren und dort nach Amyus Crowe suchen.
Er hielt nach rechts auf die Tunnelwand zu und bog kurz darauf scharf in den erstbesten Seitentunnel ein, auf den er stieß. Ein Mann wandte sich ihm zu. Eine Öllampe, die an einem Nagel an seinem Bretterstand hing, warf ihr Licht auf sein bleiches Gesicht. Seine graue Haut war feucht und sah aus wie etwas, das viel zu lange unter der Erde gewesen war. Er hatte sich in eine alte Decke gehüllt, die mit der Zeit vor Dreck ganz steif geworden war und ihn wie eine bizarre Rüstung umgab. Aus Augen, die nur aus Pupillen zu bestehen schienen, starrte er Sherlock einen Moment an.
»Willste ’ne Uhr?«, fragte er hoffnungsvoll. »Erstklassige Chronometer. Gehen immer richtig. Immer genau. Tischuhren, Standuhren … Hab alles da. Was immer du willst.«
»Nein danke«, sagte Sherlock und drückte sich am Stand vorbei. Ihm kam der Gedanke in den Sinn, wie bedeutungslos doch so etwas wie Zeit hier tief unter der Themse war. Es gab weder Sonne noch Mond, weder Tag noch Nacht. Die Zeit ging einfach so dahin. Wozu brauchte man da eine Uhr?
»Wie wär’s mit ’ner schönen Taschenuhr? Wenn de ’ne Uhr hast, brauchste nie mehr nach der Zeit fragen. Mit ’ner Savonette machen junge Burschen wie du schweren Eindruck auf die Ladys. Echtes Silber. Auch mit Schmuckgravur. Und drinnen im Deckel könntest de ’n Bild von deinem Schatz aufbewahren.«
Na klar! Echtes Silber, mit Gravur. Und vermutlich Diebesgut. »Nein, danke«, erwiderte Sherlock außer Atem. »Aber mein Vater hat Geld. Der kommt in einer Minute hier vorbei. Sagen Sie ihm, dass ich eine Uhr will. Und lassen Sie ihn nicht weg, ohne dass er eine kauft.«
Das Lächeln des Standbesitzers ließ Sherlock an einen räuberischen Riesenkrebs denken, der, unter einem Stein lauernd, darauf wartete, dass ein ahnungsloses Opfer in seine Nähe kam.
Sherlock ging weiter zum anderen Ende des Seitentunnels und lugte um die Ecke. Er blickte zum Eingangsschacht zurück, durch den er gekommen war, und stieß einen Fluch aus. Seine Verfolger mussten sich getrennt haben. Einer war ihm in den linken Tunnel gefolgt, doch der andere hatte den rechten genommen und kam jetzt auf ihn zu. Der Mann schob sich durch die Menge und musterte argwöhnisch jeden Mann, der jünger als zwanzig zu sein schien, um
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